Es gibt diese Firmen und Labels, die sind außerhalb ihrer jeweiligen „Szenen“ so gut wie unbekannt, haben dafür aber innerhalb den Status einer Institution. Millet ist solch eine Firma in der „Szene“ des verschärften Bergsteigens. Diese fühlt sich bekanntermaßen im französischen Chamonix besonders wohl, weshalb der Millet-Schriftzug dort wohl so oft zu sehen ist wie nirgends sonst auf der Welt. Er prangt auf Rucksäcken, Jacken, Schuhen, Schlafsäcken und Chalkbags.
Der Spirit von Chamonix: Firmengeschichte
Angefangen hat das Ehepaar Millet 1921 mit einem etwas bescheideneren Sortiment, nämlich mit Einkaufs- und Proviantbeuteln aus Segeltuch und Stoff. Auch wenn man schon 1928 die Werkstatt in der Nähe von Lyon in Richtung Annecy (und damit Richtung Alpen) verließ, dauerte der Übergang zu Produkten mit Bergbezug bis zur Übernahme des Geschäfts 1945 durch die beiden Söhne. René und Raymond Millet entwickelten die ersten für das Bergsteigen ausgelegten Rucksäcke. Dabei arbeiteten sie mit dem jungen Louis Lachenal zusammen, einem Spitzenbergsteiger, dem am 3. Juni 1950 die erste Achttausenderbesteigung überhaupt gelang. Begleitet wurde er dabei von Maurice Herzog, der es später noch zum Rennfahrer und zum Bürgermeister von Chamonix bringen sollte. Außerdem dabei war ein Rucksackmodell namens „Annapurna 50“ – das wohl erste „High-End-Produkt“ aus dem Hause Millet.
In den folgenden Jahren brachte Millet solche Produkte immer häufiger auf den Markt. Die Zusammenarbeit mit der Crème de la Crème unter den Bergprofis blieb ein entscheidender Faktor für den Erfolg dieser Entwicklung. 1959 wurde niemand Geringeres als Walter Bonatti zum technischen Berater bestellt, 1978 bestieg Reinhold Messner in Millet-Ausrüstung als erster Mensch den Gipfel des Mount Everest ohne Flaschensauerstoff. In den Achtzigern schiebt Patrick Edlinger in Millet-Equipment die Grenzen des Sportkletterns nach oben. Die fruchtbare Symbiose zwischen Bergsportproduzent und Top-Athleten zeigt sich auch heute noch in der Zusammenarbeit von Millet mit dem Bergführerverband von Chamonix.
Millet entwickelte sich ab den Fünfziger Jahren vom führenden Rucksackhersteller Frankreichs zum Produzenten eines breiten Sortiments an Bergausrüstung. Meilensteine der Innovation auf diesem Weg waren die Erfindung von nahtlosen und gepolsterten Schulterträgern aus Nylon im Jahr 1964 und die ersten Parkas mit GoreTex Membran 1977.
1995 erfolgte die Übernahme durch die Calida-Gruppe, in der mittlerweile auch andere prominente Namen wie Lafuma versammelt sind. Das Markenkennzeichen der überragenden Qualität und Funktionalität konnten die Millet Produkte davon unbeeinflusst erhalten. Den letzten Innovations-Höhepunkt markierte 2020 die Auszeichnung des Airbag-Rucksacks Trilogy E-1 für sein neuartiges elektrisches Airbagsystem und dem aufstiegsorientierten Bergsportdesign. Seit 2014 rückt außerdem das Thema Nachhaltigkeit noch mehr in den Mittelpunkt.
Millet und das Thema Nachhaltigkeit
In den vergangenen Jahren hat Millet es zahlreichen anderen Bergsportherstellern gleichgetan und das nachhaltige Wirtschaften zum integralen Teil des Unternehmenshandelns gemacht. Den Rahmen für das Millet-Nachhaltigkeitsprogramm setzen die „10 Eckpunkte“, die sich das Unternehmen erstellt hat. Diese umfassen:
1. Entwicklung von nachhaltigen, qualitativ hochwertigen Produkten
Die theoretisch einfachste, in der Praxis aber anspruchsvolle Maßnahme: hochwertige Produkte mit einem langen Lebenszyklus zu schaffen. Das gelingt in der Regel eindrucksvoll, schlägt aber bisweilen auch auf den Preis der Produkte durch.
2. Reduzierung der Umweltbelastung von Produkten und Verpackungen durch Ökodesign
3. Stärkung der eigenen Kundendienst- und Reparaturabteilung
Seit 2005 bietet Millet einen Reparaturservice in der eigenen Werkstatt in Annecy-le-vieux an, wo alle nach dem Verkauf zurückgesendeten Produkte inspiziert und repariert werden. Viele Produkte können so wieder in Schuss gebracht und langlebiger gemacht werden. Dabei werden nicht nur Garantiefälle, sondern auch Beschädigungen und Erschöpfung des Materials durch intensiven Gebrauch bearbeitet. Auch die Pflegeanleitungen für Millet Produkte sind als Hilfestellung zur Verlängerung der Lebensdauer gedacht.
4. Rücknahme und Wiederverwertung der gebrauchten Produkte
Millet bietet an, alle benutzten Produkte zurückzunehmen und zu sammeln, um sie neuen Verwendungen zuzuführen. So wurden seit 2006 unter anderem mehr als 1,5 Millionen Meter Seil recycelt. Hierfür wurden Partnerschaften mit dem Upcycling-Taschen-Produzenten „Outdoor Waste Lab“ (OWL) und mit sozialen Organisationen eingerichtet. Letztere ermöglichen ärmeren Menschen den Zugang zum Bergsport und versorgen sie mit gebrauchter aber intakter Funktionskleidung.
5. Systematische Bevorzugung von zertifizierten Materialien
Wann immer möglich werden recycelte oder organische Materialien eingesetzt. Umweltschonende Gewebe wie Ecoya, Ariaprene, Sorona, Hanf, Tencel/Lyocell oder Leinen eingesetzt. Besonders hervorzuheben ist Edye, eine Faser die neu am Markt ist und bei der Herstellung nur noch 3% des Wasserverbrauchs von herkömmlichen Fasern aufweist. Zu den bei Millet bevorzugt verwendeten Zertifizierungen gehören Bluesign, Oeko-Tex, GOTS (Global Organic Textile Standard) und RDS (Responsible Down Standard).
6. Gewährleistung der Rückverfolgbarkeit der Materialien tierischen Ursprungs
Den letztgenannten RDS-Standard setzt Millet durch die Zusammenarbeit mit der Organisation Textile Exchange um, welche den Standard entwickelt hat. Damit lässt sich eine ethisch vertretbare Herkunft von Federn und Daunen mit großer Sicherheit gewährleisten. Aktuell verwendet Millet ausschließlich RDS zertifizierte Daunen und Federn. Zusätzlich man mit einem weiteren Partner (Allied Feathers) ein System eingerichtet, das es Kunden erlaubt, die Herkunft der Federn und Daunen zu jedem Zeitpunkt zurückzuverfolgen. Dazu müssen Kunden nur den „Track my Down“-Produktcode für ihr gekauftes Produkt scannen und können dann mit wenigen Klicks sehen, woher die Federn und Daunen stammen, die Sie tragen.
7. (Über)Erfüllung der regulatorischen Anforderungen bei der Verwendung von Chemikalien in Rohstoffen und Produkten
Millet strebt nicht nur die Einhaltung von Regeln und Gesetzen an, sondern setzt eigene Maßstäbe und Ziele, die darüber hinaus gehen. So werden bereits seit der Kollektion 2014 alle neu entwickelten Produkte mit wasserabweisenden Behandlungen ohne Perfluorcarbone (PFC) ausgestattet. Die PFC-freien Imprägnierungen sind gleich leistungsstark wie die herkömmlichen Produkte, aber weit weniger umwelt- und gesundheitsschädlich.
8. Förderung der Herstellung in Europa und in eigenen Werken
Millet stellt seine Produktion mitsamt Lieferketten transparent dar. Auf der Firmenhomepage ist eine Weltkarte mit den Produktionsstandorten zu sehen. Eine Legende erklärt, welche Produkte wo hergestellt werden. Dabei wird deutlich, dass die Firma global produziert und somit in Sachen Regionalität sicher „Luft nach oben“ hat. Immerhin stammen derzeit 23 % der Kollektion aus europäischer Produktion, die sich in Ungarn befindet. Die Fabriken in Ungarn, Tunesien und China produzieren ausschließlich für Millet. . Und man ist bestrebt, bei den langen Transportwegen die Alternativen mit der geringsten Umweltbelastung zu nutzen.
9. Analyse und genaue Kenntnis der Lieferketten
2018 konnte Millet in Zusammenarbeit mit der Monitoring-Organisation Acte International ermitteln, dass 89 % der Partner in der Millet-Produktionskette die sozialen Standards der Sedex Smeta Zertifizierung einhalten. Das Zertifikat Sedex Smeta ist eine weltweit sehr häufig verwendete Audit-Methode, die als verlässlich und qualitativ hochwertig gilt. Sie beruht auf den 4 Säulen Arbeitsregulierung, Gesundheit, Sicherheit und Wirtschafts- sowie Umweltethik. Auch die Einhaltung der Menschenrechte in den Lieferketten wird in dem Verfahren geprüft und erfasst.
Die restlichen 11 % der nicht zertifizierten Partner werden unter firmeneigener Aufsicht unterstützt, um den Sedex Smeta Standard ebenfalls zu erreichen.
10. Engagement in gemeinwohlorientierten Organisationen
Zu den Letztgenannten zählt unter anderen die Mitgliedschaft im Verband Outdoor Sport Valley (OSV). Dieser vom französischen Staat anerkannte Verband setzt sich für Nachhaltigkeit bei Firmen der Sport- und Outdoorindustrie im Alpenraum von Grenoble bis Innsbruck ein.
Das firmeneigene Low Impact Siegel
Das firmeninterne Ökosiegel namens Low Impact soll Kunden und Partnern eine Entscheidungshilfe bieten, indem es die Bündelung der eben genannten Nachhaltigkeitsaktivitäten gut sichtbar anzeigt. Es wurde bereits im Jahr 2005 eingeführt und soll die umweltverträglichsten Produkte anhand von 2 Kriterien hervorheben:
- Die Verwendung von Materialien mit geringer Umweltbelastung (recycelt, biologisch verträgliche Herkunft, Färbungsprozess ohne Wasser, usw.)
- Die Verwendung von Materialien mit Gütesiegeln
Man sieht das Low Impact Siegel auch intern als Messlatte und Ansporn, denn „dieser Standard ermöglicht uns, jede Saison weiter voran zu kommen und uns zu verbessern, damit unsere Produkte so nachhaltig wie möglich sind. Heute tragen 75 % unserer Winterkollektion 2018-19 das Low Impact Siegel.“ Aktuelle Werte von diesem Jahr liegen zwar leider noch nicht vor, doch man kann davon ausgehen, dass die auf der Website gezeigte „Low Impact Verlaufskurve“ auch weiterhin nach oben zeigt. Das ambitionierte Ziel hat Millet jedenfalls öffentlich verkündet: „Wir wollen, dass zur Saison 2020-2021, anlässlich zum hundertjährigen Bestehen der Marke Millet, 100 % unserer Produkte das Low Impact Siegel tragen.“
Man kann angesichts des ambitionierten Teams bei Millet ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Erreichung des Ziels demnächst verkündet wird. „Der Gipfel“, wie man das große Nachhaltigkeitsziel bei Millet nennt, ist dann zwar immer noch nicht erreicht, aber man kommt ihm Tag für Tag ein Stückchen näher.