Achtung! Die im Folgenden beschriebene Tour ist alpinistisch sehr anspruchsvoll. Die Durchführung verlangt einiges an Planung, Erfahrung und Wissen im Alpinismus. Bitte gehe solche Unternehmungen niemals leichtfertig an.
„Bing Bing Bing…Metall trifft auf Metall, ein Felshammer auf einen Schlaghaken, der Klang einer aufsteigenden Tonleiter schallt durch das Gebirgskar und ein neuer Schlaghaken wurde gesetzt. Solche Klänge sind hierzulande heutzutage leider fast komplett verstummt“, denke ich mir als mein Blick durch das Gumpenkar des Ammergebirges schweift. Eine Erstbegehung im alpinen Stil ist heute an den wenigsten Wänden möglich.
Ich blicke zurück an die Wand des Geiselsteins, die vor lauter Bohrhaken nicht mehr wirklich alpin aussieht. Wie muss es damals wohl gewesen sein? Zu Zeiten der Pioniere…wo Berge und Wände noch wild und frei von fixen Absicherungen waren. Was steckte hinter einer Erstbegehung?
Warum klettern wir?
Das ist wohl eine nie richtig beantwortete Frage nach unseren Beweggründen an Felsen und Bergen hinaufzukraxeln? Klar, der sportliche Anreiz, das Naturerlebnis, der Ausbruch aus dem Alltag im Büro. Aber was waren die Beweggründe der Pioniere vor vielen Jahrzehnten, die tatsächlich noch große Gefahren auf sich genommen haben, um eine Wand zu durchsteigen, oft als Erste?
Auch ich verspüre diesen unerklärlichen Drang schon immer – und ich wollte diese Erfahrung einer Erstbegehung selbst machen. Deshalb war ich vor ein paar Jahren auf der Suche nach einer Wand, die noch keine Touren beziehungsweise zumindest keine Bohrhakentouren aufwies. Mein Auge viel dabei auf die dem Geiselstein benachbarte Gumpenkarspitze und ihre steile Südwand.
Recherche zur Wand
Es gibt defacto keine Wand mehr die noch nicht begangen wurde. Vor Allem vor dem Bohrhakenzeitalter wurde offenbar alle Schwachstellen der Wände, wie man leicht zu kletternde Linien nennt, durchstiegen. Deshalb war mein erster Schritt bei der Vorbereitung eine Recherche zur Wand, ob es bereits eine dokumentierte Tour gibt.
Die modernen Kletterführer enthalten meist keine dieser geschichtsträchtigen Touren mehr. Auch im Internet fand ich keine Informationen zu aktuellen oder vergangenen Begehungen der Gumpenkarspitze Südwand. Schließlich fand ich allerdings trotzdem heraus, dass die Wand durch ihre einfachste Linie begangen wurde – vor langer Zeit.
In einem bereits vergilbten Alpenvereinsführer aus dem Jahre 1982 fand sich eine Beschreibung aller Wege auf die Gumpenkarspitze (Abbildung 1). Darunter ein kurzer Absatz zur „kaum je begangenen Südwestflanke“.
Das Wandbild lässt wenig erkennen und der Verlauf der Tour wird im Gegensatz zu den gezeichneten Topos der modernen Führer in Worten beschrieben.
Der Aufbau des alten Alpenvereinsführers ist ohnehin interessant: Die ersten Seiten beschreiben die Geographische Zusammensetzung des Bodens und des Felsens im Ammergebirge. Außerdem werden die Talorte, jeder für sich, beschrieben.
Das zeigt schon deutlich, dass Alpinismus in der damaligen Zeit viel eher ein Erlebnis und ein Abenteuer war, als ein Konsumgut, wie es heutige Bohrhakentouren oft ausstrahlen.
Besichtigung der Wand
Der nächste Schritt meiner Vorbereitung war eine Besichtigung der Wand und des Berges. Nicht eignet sich da besser als die Begehung eines dieser alten Anstiege und so kletterten wir den Nordgrat der Gumpenkarspitze um das Gestein und dessen Qualität kennenzulernen.
Beim Abstieg besuchten wir den Wandfuß, blickten auf die bereits begangene Linie und machten uns bereits Gedanken welche Linie für einen neue Begehung unter Verwendung mobiler Sicherungsmittel sinnvoll aussieht. Zu diesen Scoutings gehört es natürlich Bilder aus allen Winkeln zu schießen.
Auch eine Aufnahme bei winterlichen Verhältnissen ist sehr sinnvoll um Steilheiten und Absätze in der Wand besser einschätzen zu können – immer ein guter Grund für Skitouren auf benachbarte Berge (Abbildung 2).
Begehung einer neuen Tour
Im Frühjahr nach der Recherche und Besichtigung der Wand ist es dann so weit. Ich ziehe mit meiner Kletterpartnerin und einem Rucksack voller Schlaghaken, Schlingen, Camalots und Klemmkeilen los in Richtung Gumpenkarspitze.
Den Zustieg bewältigen wir mit Skiern, da der nicht senkrechte Teil der Berge noch winterlich weiß ist. Am Wandfuß angekommen rüsten wir uns aus. Der mit Haken, Hammer und Klemmgeräten behängte Gurt zieht schwer an meiner Hüfte als ich die ersten Meter der auserkorenen Erstbegehungs-Linie erklettere.
Noch halten sich die Kletterschwierigkeiten in Grenzen, aber die Absicherung fordert einen großen Teil meiner Aufmerksamkeit. Immer wieder muss ich bei der Wegfindung mit einfließen lassen, wo ich möglich Sicherungspunkte finden kann.
Vor Allem in leichterem Gelände bieten sich bei der Erstbegehung im alpinen Stil Felsköpfel an, um welche einfache Bandschlingen gelegt werden können. Ein Sicherungsmittel, dass sicher auch in Pionierzeiten schon sehr beliebt war. Und so bahne ich meinen Weg durch den unberührten Fels bis hin zum ersten Absatz und dem ersten Stand.
Während ich nach einer Möglichkeit suche möglichst solide Fixpunkte für den Stand anzubringen geht mir die Entstehungsgeschichte dieses Namens „Stand“ nach…“Staaand“…hieß früher nicht viel mehr als „Ich stehe gut und kann dich hinaufziehen“.
Das schloss aber nicht zwingend einen Fixpunkt am Fels ein, der Vorsteiger, der ich in den Fels stemmte war dabei oft Fixpunkt genug. Unvorstellbar in heutigen Zeiten. Da bekommt der Spruch „Verbunden am Seil auf Leben und Tod“ gleich eine viel tiefere Bedeutung.
Schließlich schlage ich den ersten Schlaghaken in einen Spalt. Der singende Ton bei jedem Schlag wird zunehmend höher, was bedeutet der Fels ist solide und der Haken sitzt gut. „Staaaaand“ schreie ich und denke mir dabei „aber mit Fixpunkt“. Während ich meine Kletterpartnerin nachsichere, schaue ich mir den nächsten Wandabschnitt an.
Der Fels wird glatter und kompakter. Diese Passage sollte sich bald als Schlüsselstelle herausstellen. Nachdem meine Kletterpartnerin am Stand angekommen ist und ich mich neu sortiert habe sammle ich meinen ganzen Mut zusammen und klettere los.
Ich höre zum ersten Mal in meinem Leben mein eigenes Herz schlagen…das ist doch verrückt! Die Pioniere waren verrückt! Aber ich bin es auch ein bisschen und klettere weiter, Zug um Zug, setze mehrere Friends und Camalots bis ich eine spannende Seillänge später den nächsten, geeigneten Standplatz baue und mich wieder entspannen kann.
Ab jetzt läuft es und ich genieße es ganz ohne bestehende Sicherungen und Bohrhaken durch absolutes Neuland zu klettern. Ich kann die Erstbegeher aus vergangenen Zeiten nun gut verstehen, ein echteres Klettererlebnis gibt es nicht. Am letzten Stand vor dem Gipfel fällt mein Blick auf die benachbarte Verschneidung, die bisher einzige Tour durch die Südwand der Gumpenkarspitze.
Viele Jahrzehnte war es der einzige Weg von der Südseite kommend. Noch eine Seillänge und eine neue Tour ist entstanden. Die Freude ist groß als wir beide am Gipfelkreuz stehen und den Namen der Neutour in das Gipfelbuch eintragen.
Da am gegenüberliegenden Berg den ganzen Tag über wärmebedingt Lawinen abgegangen waren nennen wir die Tour „Wechtenbruch“. Eine alpine Tour ohne moderne Bohrhaken im unteren siebten Schwierigkeitsgrad.
Rückblick auf die Erstbegehung im alpinen Stil
Ich muss noch oft an dieses Erlebnis dieser Erstbegehung zurückdenken, auch wenn ich mal wieder in einer mit Bohrhaken ausgestatteten Tour hänge. Mir ist erst durch dieses Abenteuer klar geworden, wie viel wirklich hinter dem Alpinismus steckt. Manchmal nehmen wir es wohl viel zu sehr als selbstverständlich hin uns gut abgesichert in einer alpinen Wand zu bewegen.
Es ist ein großes Privileg dies tun zu können. Wir profitieren sehr von dem technischen Fortschritt, der die Kletterei viel sicherer und viel leichter konsumierbar gemacht hat. Angesichts dieser Tatsache sollten wir uns hin und wieder bewusst machen, dass der Erste, der eine solche Tour geklettert ist, eine sehr hohe alpinistische und sportliche Leistung erbracht hat, damit Wiederholer an die von ihm gesetzten Bohrhaken klettern können.
Wir sollten uns immer vor Augen halten, dass die Berge kein Sportgerät sind, sondern wilde Natur.
Achtung!!! Die an der Gumpenkarspitze entstande „Wechtenbruch“ ist eine alpinistisch äußerst anspruchsvolle Unternehmung, die nur von sehr erfahrenen Alpinkletterern begangen werden sollte.
Mehr Infos und Eindrücke findet ihr auf der Instagam-Seite @adventureswithfabi.