Eines vorab: es gibt nicht „DIE“ klar definierte und allgemein gültige Achtsamkeit, die das Leben und das Reisen automatisch besser, stressfreier und nachhaltiger macht.
Der Begriff Achtsamkeit wird in der westlichen Medizin und Psychologie ebenso verwendet, wie in der Soziologie, der Verhaltenstherapie und in religiösem Zusammenhang als Meditationsform im Buddhismus.
Ohne jetzt jeden einzelnen Teilaspekt der „Achtsamkeit“ zu beleuchten, zu erklären und zu definieren, geht es in diesem Artikel eher um eine weniger wissenschaftliche und gleichzeitig sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Achtsames Reisen“ – beziehungsweise auch durch die individuelle Abgrenzung zum „Nicht-Achtsamen Reisen“.
Ein Anspruch auf „richtiges“ oder „falsches“ Reisen möchte ich dabei keinesfalls erheben. Vielmehr geht es mir darum ein paar grundlegende Überlegungen zum Reisen anzustellen und sich bewusst mit seiner persönlichen Art zu Reisen auseinanderzusetzen – ganz egal, ob man am liebsten durch die Berge wandert, am Badesee relaxt oder mit dem Camper von Campingplatz zu Campingplatz tingelt.
Slow Travel – entdecke die neue Langsamkeit
Achtsames Reisen wird oft gleichgesetzt mit umweltfreundlichem Reisen, Reisen in die Natur und nachhaltigem Reisen (was auch immer darunter so alles verstanden werden kann…). Meiner Meinung nach ist diese Abgrenzung allerdings schwammig und nicht generell zutreffend.
Beim achtsamen Reisen geht es vielmehr darum, sich Zeit zu lassen, um seine Umwelt wahrzunehmen und nicht „husch husch“ von Erlebnis zu Erlebnis, von Hotspot zu Hotspot oder von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit zu hetzen. Damit Eindrücke entstehen können, die tiefer greifen, als ein schnelles Selfie mit dem Smartphone, benötigst du beim Reisen einfach Zeit.
Zeit um präsent zu sein, um zu sehen, den Blick schweifen zu lassen, zu hören, zu riechen, zu tasten – kurz, um deine Umgebung mit allen Sinnen wirklich wahrzunehmen.
Umweltfreundliches Reisen ist nicht unbedingt Achtsames Reisen
Selbst in einer großen Stadt mit all den vielen Menschen und Autos lässt es sich mit etwas Übung achtsames Reisen praktizieren.
Warum den Eiffelturm, die Kathedrale von Notre-Dame, den Louvre, die Schifffahrt auf der Seine und den Besuch von Montmartre in ein einziges Wochenende pressen? Warum nicht einfach durch Paris schlendern, sich an jeder Ecke von neuen Details begeistern lassen und den „Spirit“ der Stadt mit jedem Schritt zu 100% erleben?
Auf der anderen Seite schaffen es viele Menschen selbst beim Wandern in der Natur nicht, wirklich im „Hier und Jetzt“ anzukommen.
In größeren Gruppen und lautstarken Unterhaltungen ziehen sie durch Wiesen und Wälder – stets mit dem Kopf ganz woanders. So verpassen sie jede kleine bunte Blume, riechen nicht die frische Wald- und Wiesenluft und arbeiten sich vor einer Art Kulisse ab, ohne sich wirklich auf ihre Umwelt einzulassen.
Auch wenn Flugreisen um den halben Globus sicher nicht umweltfreundlich sind, so sind auch die kilometerlangen Staus zum Ferienbeginn auch umweltschädlich.
Ob Diesel, Benzin, Kerosin oder Schweröl – was die Aspekte Umweltschutz und Klimaschutz beim Reisen angeht, bleibt im Grunde nur Radfahren oder Wandern vor der eigenen Haustür. Sicherlich ist Umweltschutz ein Thema, mit dem sich jeder und jede in jedem Aspekt des Lebens reflektiert auseinandersetzen sollte.
Für das achtsame Reisen ist Umweltschutz zunächst „nur“ eine Gewissensfrage, denn die umweltfreundlichste Form des Reisens ist leider komplett auf das Reisen zu verzichten!
Welche Reiseziele eignen sich gut für Slow Travel?
Auf diese oft gestellte Frage, würde ich antworten: „Sie verfehlt das Thema und den Sinn des achtsamen Reisens.“ Gleichwohl scheinen die meisten Leute mit einer Slow Reise „Entspannung in der Natur“ zu verbinden.
Slow Travelling ist im Grunde jedoch überall möglich. Für „Einsteiger“ ins achtsame Reisen kann es jedoch hilfreich sein, die äußeren Ablenkungen möglichst stark einzuschränken. Schon früher galten „die Wüste“ oder „das Meer“ als hervorragende Orte, um in stiller Meditation eins mit der Welt zu werden und sich dabei frei vom Wollen und Wünschen zu machen.
Natürlich hat der Slow Tourismus auch diese Zielgruppe hektischer Großstädter (bei weitem nicht nur diese Gruppe, aber dieses Bild wird dabei gerne vermittelt…) längst im Fokus und bietet organisierte „Achtsamkeit“ als Helfer auf der Käsealpe oder beim Schafe hüten in den Karpaten.
Jetzt aber genug sinniert, gemotzt und gelästert. Du willst wissen, wie du beginnen kannst achtsam oder zumindest achtsamer zu reisen?
Hier sind einige Tipps, Gedanken und persönliche Ratschläge, die dir hoffentlich dabei helfen, deinen individuellen Einstieg in die Welt des Slow Travelling zu finden:
Lass dir Zeit beim Reisen
Wo auch immer es dich hinzieht. Geh es langsam an. Du brauchst nicht unbedingt ein Sabbatjahr oder Elternzeit, um achtsam zu reisen (auch wenn sich vor allem ein Sabbatical oder die Zeit zwischen zwei Jobs oder nach der Schule super anbieten…).
Achtsam reisen geht auch für kurze Zeiträume. Wichtig sind die Intensität und die Aufmerksamkeit, mit denen du deiner Reise begegnest. Qualität vor Quantität!
Plane so wenig wie möglich im Voraus und bleib flexibel
Heute hier, morgen dort, am besten schon reserviert und vorgebucht. Viele Menschen können und möchten sich nicht treiben lassen. Natürlich funktioniert dieses flexible „sich treiben lassen“ auch nicht überall gleich gut.
Zur Hauptreisezeit solltest du deshalb beliebte Touri-Hotsports einfach meiden. Dann hast du die Ruhe (die du höchstwahrscheinlich suchst…) und kannst dich viel freier und ohne Stress bewegen. Und wenn es dir an einem Ort besonders gut gefällt – dann bleib doch einfach noch ein paar Tage länger.
Auch die Anreise verdient deine Aufmerksamkeit
Ab ins Flugzeug und dann zwei Wochen stille Meditation in Sri Lanka? Bei der Idee des Slow Travel beginnt für viele die Reise direkt an der Haustür. Ob man deshalb nur noch mit Bus und Bahn reisen möchte, bleibt als Frage offen.
Wer aber beispielsweise von Deutschland mit dem Zug über die Alpen bis nach Sizilien reist, kann ganz andere Eindrücke dabei sammeln, als bei der gleichen Tour im Flugzeug. Daher sollte der Weg immer auch Teil des Ziels bleiben.
Mach dich frei vom Erfolgsdruck
Beim achtsamen Reisen geht es um bewusstes Wahrnehmen in einem Tempo, das dir die nötige Zeit gibt, um alle Eindrücke in deiner eigenen Geschwindigkeit zu verarbeiten.
Deswegen brauchst du kein bekanntes Reiseziel wählen, musst keinen Gipfelerfolg nachweisen und brauchst auch kein tolles Urlaubsfoto mit Palmenstrand posten.
Eine achtsame Reise führt dich nicht nur durch die äußere Welt, sondern auch stets in dein Inneres. So kommt es letztlich nur darauf an wo du momentan bist und wie du dich dabei fühlst – und nicht um ein Sammeln vorzeigbarer Resultate („da war ich“, „das hab ich gesehen“, „das hab ich erreicht“,…) für Freunde, Kollegen und Follower.
Alleine Reisen kann neue Wege öffnen
Ganz alleine auf Reisen zu gehen ist nicht jedermanns Sache und kann eine Menge Mut erfordern. Durch den Verzicht auf gewohnte Strukturen durch Mitreisende hast du allerdings die einzigartige Möglichkeit dich komplett auf neue Situationen und Menschen einzulassen. Mit zunehmender Größe deiner Reisegruppe wird achtsames Reisen immer schwieriger.
Das soll aber nicht heißen, dass es nicht auch mit einem Partner, Freund oder der Familie gelingen kann.
Entspannung statt Anspannung
Zum achtsamen Reisen gehören gezieltes Loslassen und echte Entspannung. Das bedeutet allerdings nicht, dass du deswegen keine Bergwanderung mehr machen sollst, nicht mehr Surfen darfst, oder auf alle anderen sportlichen Aktivitäten verzichten musst.
Wichtig sind eher Art und Tempo, mit denen du an die Aktivitäten herangehst. Wie wäre es zum Beispiel einfach mal in den Bergen zu wandern, ohne den nächsten Gipfel zu stürmen oder schon die nächsten Etappen der Hüttentour zu planen?
Wie wäre es langsam zu gehen, durchzuatmen, zu genießen, nichts zu erwarten und einfach nur zu beobachten und zu spüren? Die Sonne auf der Haut. Den Wind im Gesicht. Den Duft von Salzluft und Algen. Das Knirschen der Steine. Das Rascheln der Blätter. Das Zwitschern der Vögel…
Leichtes Gepäck – weniger Stress
Viel Gepäck bedeutet viel Last auf dem Rücken. Im wortwörtlichen, wie auch im übertragenen Sinn. Achtsames Reisen gelingt jedoch viel besser, wenn Kopf und Rücken möglichst frei bleiben. Deswegen packe in dein Reisegepäck nicht für jede noch so unwahrscheinliche Eventualität Dinge ein, sondern beschränke dich auf das Wesentliche.
Natürlich sieht dieses „Wesentliche“ bei jeder Reise etwas anders auch. Je weniger du jedoch mit dir herumträgst, desto leichter wird dein Rucksack, desto weniger kannst du verlieren und auf umso weniger Dinge musst du achtgeben. Mit dem befreienden Gefühl nicht auf alle möglichen Sachen aufpassen zu müssen, fängt stressfreies Reisen und inneres Loslassen bereits an.
One Comment on the Article
Lieber Jan L., ich habe diesen Artikel sehr langsam und mit großem Interesse gelesen, die Worte und Zeilen dadurch richtig genießen können. Vielen Dank dafür! Schon vor längere Zeit habe ich festgesellt, dass Reisen im "Schnellgang" eigentlich kein Reisen ist, sondern nur das Fortbewegen von einem zum nächsten Punkt. In deinen Worten steckt soviel Wahrheit, die ich selbst vor längerer Zeit erkannt habe. Als "Bald-Rentner" ist es mein Ziel, noch achtsamer zu reisen und den Rest meines Lebens somit zu genießen! Vielen lieben Dank für diesen Artikel!