Das Nordlicht ist eines dieser Naturphänomene, bei denen auch notorische Quasselstrippen mal für einen Moment Ruhe geben. Ein meist grün, manchmal aber auch rot oder mehrfarbig schimmernder und wehender Lichtvorhang zieht sich lautlos über den Nachthimmel. Man steht da mit offenem Mund und ist gebannt von der Größe, Erhabenheit und Schönheit des Kosmos. Man erlebt dieses köstliche Gefühl von Geheimnis und Mysterium, das dem gehetzten Hochgeschwindigkeitsmenschen heute nur noch selten vergönnt ist.
Guter Erfahrungsbericht, oder? Halt nur kein Echter, ich habe diese Zeichen der Götter noch nie in natura gesehen. Aber glaub mir, ich kann mich da beim Youtube-Schauen wirklich gut hineinversetzen. Glaubst du nicht? Dann schau mal dieses Video und sag mir, dass du keinen ehrfürchtigen Schauder verspürst …
Und ich kann jede Menge Fakten liefern. Zum Beispiel, dass wir hier zwar meist „Nordlicht“ sagen, dabei aber gar nicht daran denken, dass das Phänomen auch auf der Südhalbkugel vorkommt. Und eine Benachteiligung des Südpols wollen wir natürlich vermeiden, sodass ab jetzt nur noch wissenschaftlich korrekt von Polarlichtern die Rede ist. Man könnte zwar auch „Nord- und Südlicht“ sagen, doch das klingt irgendwie nach Banalitäten wie Blinker und Rücklicht. Deshalb schlage ich hier die lateinische Unterscheidung vor: Aurora Borealis heißen sie im Norden, Aurora Australis im Süden. Das hat doch mal Klang und Charakter, oder?
Formen und Farben
Bei WasistWas, meiner Lieblings-Wissenslektüre aus Kindertagen, liest man folgende Beschreibung:
„Polarlichter können ganz unterschiedliche Erscheinungsformen haben: als Schleier oder Girlanden, die sich verändern. Als ein über dem Horizont liegender weißlicher Bogen oder als Strahlen, als abgeschlossene Flächen oder Flecken, die alle ganz unterschiedlich gefärbt sein können und hell leuchten.“
Bei regelmäßiger Beobachtung erkennt man, dass bestimmte Farben und Formen gehäuft vorkommen. Eine grobe Klassifizierung unterteilt vier Arten von Polarlichtern, welche abhängig von den Sonnenwinden sind: Corona, Vorhänge, ruhige Bögen und Bänder. Bei der Corona handelt es sich um ringförmige, an Kronen erinnernde Gebilde. Eine weitere Ausdifferenzierung ist die Vallance-Jones Classification, die zusätzliche Attribute wie diffus, strahlenförmig, pulsierend und flammend einführt.
Das Leuchten
Es ergibt sich natürlich die Quizfrage, warum es da oben leuchtet. Die ganz grobe Erklärung ist, dass Sonnenwind aus dem Weltall auf die Moleküle der oberen Atmosphärenschichten trifft. Sorgt dann die Reibungshitze ähnlich wie bei den Sternschnuppen für das Leuchten? Falsch, die Leuchtenergie entsteht zwar tatsächlich durch Aufeinanderprall von Molekülen, jedoch nicht durch Reibung, sondern durch Ionisation und Anregung von Gasen, ähnlich der in Leuchtstoffröhren.
Die Farben
Welche Farben wir zu sehen bekommen, hängt von den je nach Höhenlage verschiedenen beteiligten Elementen in der Atmosphäre ab. Und von unseren eigenen Wahrnehmungsorganen, denn verschiedene Menschen sehen bei der gleichen Aurora manchmal abweichende Farben.
Die „übliche“ Farbe ist grün, dann folgen rot und blau. Aus diesen Grundfarben entstehen auch Mischungen wie violett, weiß und manchmal auch gelb. Grüne Polarlichter werden üblicherweise durch Sauerstoff in Höhen zwischen 80 und 150 Kilometern hervorgerufen. In Höhen von 150 bis 600 Kilometern erzeugt der höhere Anteil an Stickstoffatomen rote und blaue Farben.
Polarlicht auf Hawaii? Wo kommt das Phänomen vor?
„Polarlichter sind meistens in zwei etwa 3 bis 6 Breitengrade umfassenden Bändern in der Nähe der Magnetpole zu sehen“, könnte man in wikipediatypischer Sperrigkeit zusammenfassen. Was das heißt, versuche ich mal für die Nordhalbkugel aufzudröseln: der nördliche Magnetpol wurde zuletzt 2007 in seiner Position bestimmt, und zwar auf 83° Nord und 112° West. Das ist nördlich von West-Kanada, ziemlich nah am geografischen Nordpol. Das häufigste Vorkommen der Nordlichter spielt sich also entlang des 83ten nördlichen Breitengrades ab. Er markiert die Mitte des Bandes, in dem die meisten Nordlichter vorkommen. Das Band ist maximal 6 Breitengrade breit, demnach reicht es vom 86. Grad ganz nah am Nordpol bis zum 80. Grad. Alles in allem verdammt weit nördlich.
Doch man muss nicht bis nach Spitzbergen reisen, um die Aurora Borealis zu Gesicht zu bekommen. Das müsste man nur, wenn man sie in fast jeder klaren Nacht sehen will. Für eine halbwegs gute Chance, binnen ein-zwei Wochen einen Blick zu erhaschen, reicht es meistens, zwischen September und Mai nach Schweden oder ins südliche Norwegen zu fahren. Die jahreszeitliche Einschränkung hat nur mit der Dunkelheit zu tun: Polarlichter sind das ganze Jahr vorhanden, im Sommer aber wegen der Helligkeit schlecht bis gar nicht zu sehen.
Die Nordlichtzone ist auch kein gleichmäßiges Band um den Nordpol, sondern hat Kurven und Löcher, sodass die Formel „je näher am Magnetpol, desto höher die Sichtungschance“ nicht immer aufgeht.
In Phasen besonders heftiger Sonnenaktivität mit extremen „Sonnenstürmen“ kann man auch ganz zuhause bleiben, denn dann gibt es selbst in Deutschland die Chance auf Nordlicht-Sichtungen (hier ein Foto von einem Polarlicht über Berlin am 8.10.2013). Im Extremfall sind Polarlichter dann bis in die Tropenzone zu sehen – wie zuletzt 1859, als sie bis nach Havanna und Hawaii sichtbar waren.
Bescheidener Superstar: die Sonne
Die Hauptdarstellerin der nächtlichen Show hält sich dezent im Backstagebereich auf. Huch, erst jetzt beim Schreiben fällt mir auf, dass sie ja wortwörtlich der Superstar ist – der einzig wahre Stern an unserem Himmel. Sie ganz allein bestimmt auch, wann die Polarlichter auftreten:
„Die Häufigkeit der Polarlichterscheinungen in den mittleren Breiten (Mitteleuropa) hängt von der Sonnenaktivität ab. Die Sonne durchläuft einen Aktivitätszyklus (Sonnenfleckenzyklus), der vom Anfang (solares Minimum) über die Mitte (solares Maximum) bis zum Ende (erneutes Minimum) im Durchschnitt elf Jahre dauert.“
In Phasen des solaren Maximums gibt es besonders viele Sonneneruptionen, bei denen riesige Materiemengen (Plasma, hauptsächlich aus Elektronen und Protonen bestehend) mit bis zu 2500 km pro Sekunde abgedampft und weggeschleudert werden. Solch einen coronalen Massenauswurf (CME) kann man sich vorstellen wie einen Vulkanausbruch, nur dass die ausgestoßene „Wolke“ größer als die ganze Erde sein kann. Sogar viel größer. Die Produkte einer in Richtung Erde gewandten Eruption wehen als Sonnenwind zum blauen Planeten und erzeugen dort Polarlichter.
Polarlichter machen somit sichtbar, dass die Sonne weit mehr Einflüsse auf die Erde und die Atmosphäre ausübt als „nur“ Wärme und Beleuchtung zu liefern. Über die komplexen elektromagnetischen Einflüsse von Sonne und „Weltraumwetter“ auf Atmosphäre und Klima ist längst noch nicht alles bekannt.
Sonnenwind: ein Lüftchen im Vakuum
Der Teilchenstrom aus dem CME weht je nach Heftigkeit des Ausbruchs schneller oder langsamer zur Erde. Von 100 bis 800 Kilometer pro Sekunde ist in verschiedenen Quellen die Rede. Das ist zwar schneller als Roadrunner und Coyote zusammen, doch draußen im Weltall kommt es eher gemütlich daher. Das Tempolimit liegt dort bekanntlich bei Lichtgeschwindigkeit, zumindest was Strahlen und Wellen angeht. Während das Licht für die 150 Millionen Kilometer zwischen Sonne und Erde etwa acht Minuten braucht, trifft der Sonnenwind erst nach etwa 24 bis 72 Stunden auf die Erdatmosphäre. Der Kontakt mit dem größeren Erdmagnetfeld erfolgt etwas früher, wobei dieses ähnlich wie eine nicht platzende Seifenblase gestaucht und gedehnt wird. Ohne diesen Schutzschild würden die Teilchen und Strahlen der Sonnenwinde das irdische Leben zerstören.
Magnetfeld und Atmosphäre der Erde: die Showbühne
Magnetfeld und Atmosphäre spielen bei der Erzeugung der Polarlichter eine wichtige Rolle. Das Magnetfeld fängt die Teilchen des Sonnenwindes ab und lenkt sie entlang seiner Feldlinien um. Diese Feldlinien „durchstoßen“ an den beiden Magnetpolen die Erdoberfläche, um entlang der Magnetpol-Achse durch den Erdkern zu verlaufen. Dass die Magnetlinien den Erdboden an den Magnetpolen „durchstoßen“, ist der Grund, dass die Sonnenwind-Teilchen dort besonders intensiv mit der Atmosphäre in Kontakt kommen und Polarlichter bilden. Sie stoßen in etwa 50 bis 400 Kilometern Höhe mit den Atomen und Molekülen der Lufthülle zusammen und bringen diese zum Leuchten. Das geschieht, wie schon erwähnt, hauptsächlich durch Ionisation, sprich der Entnahme oder Hinzufügung von Elektronen in den Atomen der Atmosphäre mitsamt damit verbundener Ladungsänderung.
Kann man hier von einem Betrieb mit Atomenergie sprechen? Wahrscheinlich nur, wenn man Nichtphysiker ist und keine Ahnung hat. Auch die Frage, ob die Polarlichter klimaneutral leuchten, muss von Fachleuten abschließend geklärt werden.
Gefahren durch Polarlichter?
Gefahr für Leib und Leben durch einen Angriff wild gewordener Sonnenwindteilchen droht uns in der nordischen Wildnis nicht. Für die Betrachter ist das Schauspiel vollkommen ungefährlich. Von der ganzen Elektronik und Elektrotechnik, die unseren Planeten mittlerweile ziemlich zugeparkt hat, kann man das nicht so uneingeschränkt behaupten. Denn die mit Sonnenwinden verbundenen starken elektromagnetischen Felder können Satelliten, Radio, Funk und Stromnetze stören – und im Extremfall auch zerstören. So brannte 1989 während eines Sonnenfleckenmaximums in Kanada eine zentrale Trafostation durch, was in einer Kettenreaktion zu einem teilweise tagelangen Blackout im ganzen kanadischen Nordosten führte.
Und was lernen wir daraus?
Es soll hier erstmal reichen mit Daten und Zahlen, denn man kann mit dem Polarlicht locker dicke Bücher füllen. Außerdem sterben mit zu vielen Details und Erklärungsversuchen doch irgendwann Romantik und Geheimnis ab. Oder? Hmm, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn bei einem Phänomen wie dem Polarlicht kann man auch zu folgender Einsicht kommen: egal wie viele Details man erfasst und egal wie nah man das Bild heranzoomt – es tut sich neben dem Bekannten immer noch mehr Unbekanntes auf.
Titelbild: commons.wikimedia.org, Ximonic (Simo Räsänen)