Immer öfter hört man von diesem Wunderstoff mit den zwei Namen: Lyocell und Tencel.
Lyocell ist dabei die „Typenbezeichnung“ der Zellulosefaser, während Tencel ihr Markenname ist.
Es handelt sich dabei nicht nur namensmäßig um einen seltsamen Zwitter, sondern auch von den Eigenschaften her. Denn Lyocell/Tencel ist eine synthetische Naturfaser. Ja, Synthetik und Natur; das ist in diesem Falle kein Widerspruch, wie wir gleich noch sehen werden.
Zunächst erstmal noch weiter mit den Besonderheiten. Da wäre als Nächstes die lange Liste an Vorteilen, die bei dieser Faser stets aufgezählt wird. Sie ist so lang, dass es schon irgendwie verdächtig wirkt. Wo ist der Haken? Wann kommt die Ernüchterung, das dicke Ende, das den Hype übermorgen wieder vergessen macht?
Nun, das dürfte gar nicht kommen. Denn man wird auch bei gründlicher Suche nicht viel mehr Haare in der Suppe finden als das etwas höhere Preisniveau. Und selbst das hält sich durchaus in Grenzen. Gut, bei den Gemischen mit Merinowolle ist es wirklich in der gehobenen Sphäre unterwegs, doch dort sind ja auch zwei erstklassige Stoffe drin.
Und da ein Ende des Tencel-Siegeszugs nicht in Sicht ist, sind künftige Preisbewegungen nach unten durchaus möglich. Discounterpreise sind jedoch nicht zu erwarten, denn Tencel ist und bleibt keine Billigware, bei der die Kosten auf die Umwelt und die menschliche Allgemeinheit „umgelegt“ werden.
Einordnung des Materials
Lyocell ist eine von etwa neun auf dem Weltmarkt vertriebenen Regeneratfasern. So nennt man jene durch synthetische Prozesse hergestellten Fasern, die aus natürlichen, nachwachsenden („regenerierenden“) Rohstoffen stammen. Bekannte Regeneratfasern, die auch im Outdoorbereich zum Einsatz kommen, sind Viskose und Modal. Als Rohstoff dient fast immer Holz, dessen Zellulose das Grundmaterial der Fasern bildet. Deshalb spricht man hier in Abgrenzung von reinen Naturfasern und synthetischen Fasern von „synthetischen Naturfasern“.
Seinen „historischen“ Ursprung hat Lyocell im Jahr 1987. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Material in einer semikommerziellen Anlage in Grimsby (UK) produziert. Mittlerweile werden die Fasern jedoch unter Bezeichnung Tencel produziert und das exklusiv durch die Firma Lenzing in Heiligenkreuz (Österreich). Dort befindet sich die bislang weltweit größte Tencel Produktionsanlage (das Jahreskapazität beträgt ca. 67.000 Tonnen). In den nächsten Jahren sind weitere, größere Produktionsstätten in den USA und in Thailand geplant.
Wie wird es hergestellt?
Tencel wird aus dem Holz von Eukalyptusbäumen angefertigt. Der aus dem Holz, durch ein Direkt-Lösungsmittelverfahren, extrahierte Zellstoff wird nochmals durch Wasserentzug und unter Verwendung des gleichen Lösemittels gelöst. Anschließend wird der Zellstoff filtriert und durch feine Spinndüsen gepresst.
Die so gewonnenen leichteren Filamente werden als Faserkabel zusammengefasst und je nach Anwendungszweck weiteren Behandlungsschritte wie Trocknen, Kräuseln oder Zuschneiden unterzogen.
Dieser Herstellungsprozess ist in mehrfacher Hinsicht besonders: erstens werden für die Produktion schnell wachsende asiatische und südafrikanische Eukalyptushölzer aus nachhaltiger Forstwirtschaft verwendet, in der weder künstliche Bewässerung noch Genmanipulation zum Einsatz kommen.
Die Flächen, die für den Holzanbau genutzt werden, sind wenig bis gar nicht für den Anbau von Nahrungsmitteln geeignet. Die Faserausbeute pro Quadratmeter ist bei Lyocell im Schnitt etwa sechsmal höher als bei Baumwolle.
Zweitens sind die Lyocell-Fasern biologisch abbaubar. Und drittens ist das bei der Herstellung verwendete Lösungsmittel N-Methylmorpholin-N-oxid (NMO) ungiftig. Außerdem wird das Mittel in einem “Closed-Loop-Verfahren” verwendet, was bedeutet, dass es in einem geschlossenen Kreislauf zurückgewonnen wird und nicht in die Umwelt gelangt.
Lyocell kann auch aus jeder anderen Form von Zellulose einschließlich Bambus hergestellt werden. Der wichtigste Unterschied zur Herstellung anderer Regeneratfasern wie Viskose liegt darin, dass hier keine giftigen und umweltschädlichen Chemikalien notwendig sind.
Eigenschaften
Bei den für den Outdoorbedarf verwendeten Tencel-Stoffen bilden die eben beschriebenen Faserfilamente eine Fibrillenstruktur. Fibrillen kann man sich als ein Bündel von winzigen Härchen bzw. Gefäßen vorstellen. Trotz der Weichheit, sind diese Fibrillen für die hohe Festigkeit der Gewebe im trockenen, als auch im nassen Zustand verantwortlich.
Auch die hohe Feuchtigkeitsabsorption von Tencel ist auf seine Fibrillen zurückzuführen. Das Gewebe hat dadurch einen „kühlen“ Griff und fällt in fließenden Formen. Oft wird der Griff auch als glatt beschrieben, kann aber auch als pfirsichartig (peach-skin-Effekt) wahrgenommen werden .
Darüber kann man natürlich streiten, doch besonders im Vergleich zu rein synthetischen Kunstfasern zweifelt niemand an der hohen Hautfreundlichkeit des Materials (selbst die meisten Allergiker nicht). Die Sanftheit verbindet sich
hierbei mit Stärke, denn Tencel ist absolut pflegeleicht: es knittert kaum und hat weder mit 60° Wäschen, Trocknern oder chemischer Reinigung Probleme. Die einzigen Pflegehinweise, auf die man achtgeben muss: möglichst nicht schneller als mit 800 Umdrehungen schleudern, sowie keine Wassersparprogramme verwenden.
Eignung im Outdoorbereich
Die hohe Feuchtigkeitsabsorption ist einer der Vorzüge, die Tencel für Outdoorbekleidung prädestinieren. Sie bewirkt unter anderem den angenehmen Klimatisierungseffekt, denn der hohe Gehalt an Grundfeuchtigkeit dieser natürlichen Faser fühlt sich einfach frisch an.
Der deutliche Unterschied zu „einfach nur nass“ besteht darin, dass die glatte Faseroberfläche im Gegensatz zum Inneren trocken bleibt – sie fühlt sich auf der Haut deshalb nicht nass an, sondern kühlt angenehm.
Kurz gefasst: Je glatter die Faser, desto stärker dieser Kühlungseffekt. Im Vergleich zu der gekräuselten Oberfläche der Baumwolle, schneidet Tencel hier um Längen besser ab.
Da die Tencel Fasern auch sehr schnell trocknen, entsteht bei Hitze viel Verdunstungskälte, die den hohen Temperaturen entgegenwirkt. Nicht umsonst wird Tencel in Sachen Kühlungseffekt oft mit Leinen verglichen.
Lyocell und Hygiene
Lyocell punktet auch in Sachen Hygiene: durch den schnellen Abtransport von Feuchtigkeit entstehen keine Feuchtigkeitsfilme, die als Nährboden für Bakterien dienen. Deren Wachstum wird von vornherein auf natürliche Weise gehemmt. Bei Synthetikfasern hingegen steigt die Bakterienzahl explosionsartig.
Wie sieht es mit der Wärme aus? Nun, in diesem Punkt wird Tencel häufig nachgesagt, ähnlich angenehm wie Schafschurwolle zu wärmen. Wärmt, hält Bazillen fern und kühlt zugleich auf jeweils hohem Niveau – wie soll das alles möglich sein?
Letzten Endes hat Mutter Natur diese Faserstrukturen entworfen und wir Menschlein frickeln nur die begehrten Teile aus dem Rahmen heraus. Und wenn man Mutter Natur machen lässt, dann werden Dinge möglich, die zu gut klingen, um wahr zu sein. Man muss dann aber auch genau hinschauen und die Zeichen erkennen. Deshalb gibt es im Fall Tencel jetzt mal einen kräftigen Wink mit dem Zaunpfahl, den man wohl kaum übersehen kann: *wink*
Tencel nur von einem Produzenten
Doch Moment, wenn das Zeug so gut sein soll, warum hat es dann den Markt nicht schon längst überschwemmt? Eine gute Frage, die man übrigens bei vielen Produkten und Verfahrensweisen stellen könnte. Im Fall von Tencel dürfte es schlicht und einfach daran liegen, dass mit der Lenzing AG nur ein einziger Produzent den ganzen Weltmarkt abdeckt. Und vielleicht auch daran, dass Nachhaltigkeit und Marktführerschaft nach wie vor schwer zu vereinen sind – auch wenn das Interesse an Ökokleidung und Biotextilien in der Outdoorbranche deutlich wächst.
Es gibt jedenfalls (oder zumindest meines Wissens nach) noch keine reinen Tencel-Gewebe zu kaufen. Stattdessen gibt es zahlreiche Mischvarianten mit diversen anderen natürlichen und synthetischen Fasern wie Baumwolle, Viskose, Polyester und Polyamid. Diese Mischungen harmonieren in der Regel gut und machen die Vorzüge der Lyocellfaser auch durchaus spürbar.
Haptik und Tragegefühl
Eine kleine Vorwarnung: womöglich kann die „fließend fallende“ Eigenschaft von Tencel manch kernigen Bergfreund zunächst eher enttäuschen, statt zu erfreuen. Das Material hat nicht den kräftigen, eher steifen Griff, den man von (neuen) Baumwolltextilien gewohnt ist. Doch trägt man Tencel erst einmal länger auf der Haut, zeigt es erneut, dass Sanftheit nicht unbedingt ein Zeichen von Schwäche ist. Das weiche und leicht wellige Fallen des Materials hat nämlich nichts mit fehlender Widerstandskraft oder geringer Haltbarkeit zu tun. Im Gegenteil, Festigkeit und
Langlebigkeit gehören gerade zu den Stärken von Tencel. Das spiegelt sich auch in der Optik wider, denn das Material macht durchaus einen wertigen und teilweise gar glanzvollen Eindruck. Dass die Faser letzten Endes mit dem Gefühl noch besser überzeugt als mit vielen Argumenten, will Tencel mit dem Slogan „Feels so right“ zum Ausdruck bringen.
Vergleich zu anderen Funktionstextilien
Im Vergleich zu Naturfasern (wie Baumwolle) schneidet Lyocell/Tencel genauso gut ab, wie im Vergleich zu reinen Synthetikfasern. Das gilt für „idealistische“ Punkte wie die Ökobilanz, als auch für die kühl kalkulierten Funktionalitätskriterien.
In „idealistischer“ Hinsicht liegt der Pluspunkt gegenüber Synthetikfasern wie Polyester und Fleece darin, dass kein Erdöl benötigt wird. Im Vergleich zu Baumwolle wird bei der Tencel-Produktion nur ein Bruchteil des Wassers, sowie keine Pestizide verbraucht. Außerdem ist die biologische Abbaubarkeit von Lyocell unübertroffen. Die ist zwar auch bei anderen Regeneratfasern gut, doch werden bei deren Herstellung umweltschädliche Chemikalien verwendet.
Die Funktionalitätsvorteile gegenüber Baumwolle und reinen Naturfasern haben wir bereits genannt. Gegenüber den Kunstfasern könnte man noch die geringe elektrostatische Aufladung von Lyocell hervorheben; und gegenüber anderen Regeneratfasern die geringere Empfindlichkeit bei unsanfter Behandlung und Fehlern in der Pflege.
Betrachtet man Lyocell als Material zur Wärmeisolierung und vergleicht es damit mit Daunen, liegen die Vorteile des Lyocells in der weit geringeren Empfindlichkeit und der Pflegeleichtigkeit. Die Nachteile liegen wiederum, trotz dem selben Gewicht, in geringerer Wärmeleistung und geringerem Komfort.
Alles in allem muss sich Lyocell/Tencel auf dem Markt der Funktionstextilien wahrlich nicht verstecken. Es ist zwar nach wie vor nicht DAS neue Wunderding, dass alles andere überflüssig macht, doch es ist ganz sicher weit mehr als nur der nächste Hype.