Und plötzlich ist März. Der Winter hat eigentlich gerade erst angefangen und schon klopft der Frühling wieder an die Tür. Beim Anblick der ersten Schokoostereier schrillen nicht nur bei mir die Alarmglocken: die neuen Skitourenstiefel sind doch gerade erst eingelaufen und wo sind eigentlich die vielen erträumten Pulverschneeabfahrten geblieben? Es ist noch viel zu früh für „klassische“ Frühjahrstouren! Jetzt heißt es ab in die Berge, auch wenn es zeitlich wieder nur für einen Wochenendausflug reicht.
Kaum ein anderes Gebiet entspricht den Erwartungen an das Skitourengehen, wie die Silvretta: konditionell fordernde Anstiege, je nach Gipfelziel technische und mentale Herausforderungen sowie lange, schöne Abfahrten. Die perfekte Mischung aus Anspruch und Vergnügen inmitten einer ungezähmt wilden Bergwelt.
Filmschnitt
Der enge, dunkle Vermunt-Tunnel wirkt bei der Anreise wie ein radikaler Filmschnitt. Aus dem bunten Frühling im Tal landen wir an der Bielerhöhe völlig unverhofft in einer malerischen Winterlandschaft. Die Sonne strahlt vom blauen Himmel und spiegelt sich in der majestätischen Weite der Silvretta. Einzige Konturen in der weißen Bergwelt sind die felsigen Flanken der umliegenden Gipfel. Dahinter leuchten bläulich schimmernde Spitzen und Zacken, ein Lockruf aus dem Herz der Silvretta.
Einkehrschwung
Ab auf den gefrorenen Silvrettastausee. „Wird schon halten…“, trotz glühender Mittagssonne lässt sich leicht scherzen, denn die Dicke des Eises wird durch Bohrungen regelmäßig überprüft. Dennoch ist die Eisüberquerung ein außergewöhnlicher Auftakt für den zweistündigen Aufstieg zur Wiesbadener Hütte. Während sich auf dem Eis noch vereinzelt Touristen im Schnee vergnügen, steigen wir bald einsam das Ochseltal hinauf, zwischen Egghorn und Hohem Rad hindurch in die hochalpine Kulisse von Silvrettahorn, Piz Buin und Dreiländerspitze. Eine schweißtreibende Angelegenheit bei solchen Frühlingstemperaturen.
„Was wollt ihr trinken“, grüßt schon von Weitem Andrejka, Bedienung von der Wiesbadener Hütte. Jeder gute Vorsatz auf einen Abstecher in Richtung Ochsenkopf oder Rauher Kopf ist sofort im Keime erstickt. Die sonnige Terrasse mit Ausblick auf zukünftige Skitourenabenteuer ist so überzeugend, dass bald nur noch unsere Finger über die Gipfel der Landkarte wandern.
Qual der Wahl
Hier oben herrscht reger Betrieb, wir sind nicht die einzigen schneesüchtigen Abenteurer. Abseits der beiden Hauptattraktionen Piz Buin und Dreiländerspitze ist der Tiefschneesuchende im Tourengebiet der Wiesbadener Hütte dennoch zuweilen recht einsam unterwegs. Als Einstiegstour bietet sich beispielsweise die Tiroler Scharte mit Ochsenkopf an. Wer etwas Anspruchsvolleres sucht, wird an den etwas steileren Hängen am Silvrettahorn fündig. Und dennoch dreht sich für die meisten alles um den Piz Buin, als höchsten Gipfel von Vorarlberg. Auch für uns, weil wir uns den Paradeberg auf einer „Buin Reib’n“ einmal von allen Seiten anschauen wollen. Eine etwas ungewöhnliche Tour, die uns hoffentlich ein paar unverspurte Abfahrten beschert. Vielleicht können wir unterwegs noch den Gipfel der Piz Fliana „mitnehmen“…
Runde Sache
Wolkenverhangen und trüb beginnt der Tag, als wir von der Wiesbadener Hütte in Richtung Ochsentaler Gletscher ziehen. Aus der sanft gewölbten Schneedecke ragen bedrohlich die eisigen Zähne des Gletscherbruchs und lassen die Tiefe ihrer Spalten nur erahnen. Es gibt viel zu sehen, während wir in steilen Spitzkehren die schmale Flanke zwischen Felsen und Eis empor steigen. Weit hinten am oberen Gletscherbecken lässt ein heller Fleck am Himmel eine Wetterbesserung erhoffen, doch selbst an der Grenzscharte Fuorcla dal Cunfin macht die Wolkendecke nicht die leisesten Anstalten sich zu heben.
Großer Vorteil: wir haben alle Zeit der Welt um in Ruhe unsere Runde zu drehen, ohne uns über Erwärmung oder Nassschneelawinen Sorgen zu machen. Die kurze, schwungvolle Abfahrt zur Mittagsplatte bringt uns an den Fuß des Piz Fliana. Durch lockeren Tiefschnee spuren wir den steilen Nordhang empor, während uns ein zunehmend stürmischer Wind erste Graupel ins Gesicht peitscht. Die Steilflanke oberhalb des Gletscherabbruchs am Plan Rai queren wir bei minimaler Sichtweite.
Am Skidepot geraten wir vollends in die Windseite, heftige Böen zwingen uns in die Knie. Auf den Gipfel müssen wir heute verzichten, dafür ernten wir eine Traumabfahrt durch knietiefen Pulverschnee. Ein wilder Ritt über die Steilflanke, der das Skifahrerherz zum Jauchzen bringt. Nach kurzer Verschnaufpause an der Chamonna Tuoi meistern wir den Gegenanstieg zum Vermuntpass, bevor es auf einer frischen Schicht Neuschnee geschmeidig zur Wiesbadener Hütte zurück geht.
Im Schnee versumpft
Voller Tatendrang diskutieren wir die Möglichkeiten für den nächsten Tag. Idealerweise haben wir morgen früh eine Schicht frischen Pulverschnee, bereit um unsere Spuren aufzunehmen. Als gute Abschlusstour eignet sich hervorragend der Rauher Kopf mit seiner wunderschönen Nordabfahrt über den Bieltalferner und durch das optimal geneigte Bieltal. Kein Schieben, kein Skaten über den Silvrettastausee, einfach bis zur Bielerhöhe heraus schwingen.
Nicht für uns, nicht diesmal. Über Nacht gibt es einen halben Meter Neuschnee, am Morgen schneit es noch immer in dicken Flocken. Welch Ironie des Schicksals, noch vor ein paar Tagen hatten wir den Winter so gut wie abgeschrieben und jetzt sitzen wir aufgrund der Neuschneemenge fest. Das von Lucie liebevoll servierte, üppige Frühstück auf der Wiesbadener Hütte können wir also in aller Ruhe genießen. Einziger Trost, bei so viel Schnee wird selbst die Abfahrt durchs Ochsental zur Freude. Bis über die Ohren tauchen wir in frischen Pulverschnee. Die Beine pumpen den Körper bei jedem Schwung aus dem Schnee, elegant rauschen wir durch die weiße Pracht. Innerlich jubelnd, wer hätte solch traumhafte Schneeverhältnisse erwartet. Wieder einmal bleibt es nur bei vielen schönen Abfahrten, anstatt der zugehörigen Gipfel. Aber das kann man sich nicht immer aussuchen. Alles in allem ist es doch nur ein weiterer Grund, um bald wieder zu kommen.
INFOS:
ANREISE: Mit dem Auto über die Inntal- oder Rheintal Autobahn bis zur Abfahrt Montafon bei Bludenz, weiter auf der Montafonerstraße (L188) nach Partenen.
Mit der Bahn bis Bludenz, anschließend per Montafonerbahn nach Schruns und mit dem Postbus nach Partenen.
BERGBAHN: Vermuntbahn, Vermuntwerk, 6794 Gaschurn. Die Silvretta-Hochalpenstraße ist im Winter gesperrt, daher geht es ab Partenen mit der Vermuntbahn zur Bergstation Trominier (1.731 m) und per Minibus hinauf zur Bielerhöhe (2032m). Die Bahn verkehrt täglich von 8:30-12:00 Uhr und 13:00-16:00 Uhr, letzte Talfahrt ab Bielerhöhe um 16:00 Uhr.
HÜTTE: Wiesbadener Hütte, 2443 m, DAV Sektion Wiesbaden, Tel. +43 5558 4233, wiesbadener@gmx.net, im Winter geöffnet von Mitte Februar bis Anfang Mai, 80 Betten, 100 Lagerplätze, Gepäcktransport auf Anfrage