„Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare“: Dieses alte Sprichwort über das Leben in einem gründlich regierten Land ist weithin bekannt. Und „von der Wiege bis zur Bahre“ ist ja auch der übliche Lauf der Dinge. Was soll nun aber ein Konzept sein, dass sich „Von der Wiege bis zur Wiege“ nennt? Wie soll das möglich sein? Werden Produkte hier immer wieder neu „geboren“? Oder kommen sie wie Brad Pitt im Film „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ alt zur Welt und werden dann immer jünger?
Prinzip- und Begriffserklärung
Alles falsch. Cradle to Cradle ist das „öko-effektive“ Konzept, das der Chemiker Michael Braungart und der Architekt William McDonough vor rund 20 Jahren entworfen haben. Es besagt vereinfacht ausgedrückt, dass Konsum- oder Produktionsgüter in einem vollkommen geschlossenen Kreislauf produziert, verbraucht und re-produziert werden. Vollkommen geschlossen bedeutet, dass es weder Abfälle noch Rückstände noch sonstige „Reibungsverluste“ gibt. Im Detail bedeutet das für die Güterproduktion, dass:
- die eingesetzten Rohstoffe nach Gebrauch biologisch abgebaut und als „Nährstoffe“ wieder in den natürlichen Stoffkreislauf zurückgeführt werden ODER
- ohne Verluste zu neuen Gütern verarbeitet werden können.
- giftige oder umweltgefährdende Stoffe und Verbundstoffe, die sich nicht sortenrein recyceln lassen, sind für das Produktdesign ausgeschlossen.
- die Energie für Produktion und Re-Design liefern erneuerbare Energien.
„Cradle to Cradle“ ist somit der Gegenentwurf zur Wegwerfproduktion. Klingt super, doch wie soll diese Wundermaschinerie im Detail funktionieren?
Wie funktioniert es im Detail?
Das Zauberwort heißt „Ökoeffektivität“. Damit ist ein Qualitätsansatz gemeint, der die Möglichkeiten der Industrie so verbessern soll, dass natur- und umweltunterstützende Produkte und Prozesse möglich werden. Und zwar indem natürliche Stoffwechselprozesse detailliert nachgeahmt werden.
Dabei geht es nicht um Einsparung und Vermeidung, sondern es ist im Gegenteil sogar Überproduktion und „Verschwendung“ möglich. Auch die Natur erzeugt ständig Überfluss, ohne die stofflichen Kreisläufe zu schädigen. Man denke nur an die „Energieverschwendung“ der Sonne.
Man muss demnach laut Braungart den ökologischen Fußabdruck nicht reduzieren, sondern ihn als „nie versiegende, unterstützende Quelle für natürliche Systeme“ errichten.
Klingt nicht ganz unkompliziert und ist auch nicht ganz einfach umzusetzen. Besonders die Sache mit den komplett ungiftigen und recycelbaren Ausgangsstoffen dürfte ein oftmals schwer umzusetzender Schritt sein. C2C ist ein Konzept mit hohen Ansprüchen an Know how und Innovationskraft.
Deshalb gibt es nach wie vor noch nicht allzu viele Produkte, obwohl das Konzept wie gesagt keine Neuheit mehr ist. Weltweit sind es um die 11.000 Produkte, die nach dem C2C Prinzip entwickelt wurden.
Dennoch spricht Michael Braungart im Interview mit Deutschland.de davon, dass die Industrie „euphorisch“ auf Cradle to Cradle reagiert und, da es nicht ums Vermeiden, „sondern um Innovation, Qualität und Schönheit“ geht. Außerdem lehren „alle Designschulen der Welt, die etwas auf sich halten“, Cradle to Cradle. Und das Prinzip setzt sich seiner Ansicht nach weiter durch, da es „Voraussetzung für die Digitalisierung ist. Ich kann nichts digitalisieren, wenn ich nicht ganz genau weiß, was es ist und was es enthält.“
Zudem müsse die Industrie „darauf umsteigen, Nutzung zu verkaufen statt Maschinen. Denn Maschinen können in der digitalen Welt innerhalb von Wochen kopiert werden, und dann konkurrieren sie mit ihrem eigenen Nachbau.“ Was mit „Nutzung verkaufen“ gemeint ist, erläutere ich gleich. Die erwähnte Maschinen-Selbstreplikation erschließt sich mir hingegen selbst nicht ganz. Die klingt für mich eher nach Transhumanismus als nach Ökoeffektivität in der analogen Welt. Auch sonst bleiben (zumindest mir) beim Betrachten des Cradle to Cradle Prinzips hier und da Verständnislücken und offene Detailfragen.
An dieser Stelle soll dann auch nicht unerwähnt bleiben, dass es am Cradle to Cradle Konzept auch Kritik gibt. Genauer, es wird an der Umsetzbarkeit über einige Nischenprodukte hinaus gezweifelt. Auch am eben kurz dargestellten grundlegenden Denkansatz der C2C-Erfinder gibt es durchaus berechtigte Einwände.
Allerdings ist das auch bei allen anderen „Lösungskonzepten“ der Fall. Auch die sind allesamt Mischungen aus einigen naturwissenschaftlichen Prinzipien und Philosophie. Es gilt also nach wie vor: Nobody is perfect.
Was ist das Besondere?
Was als erstes auffällt: Cradle to Cradle kommt zeitgeistuntypisch ohne Büßermoral, Verzichtsethik oder Schuldgefühlaktivierung aus. Dazu nochmal Michael Braungart:
„In Deutschland betreiben wir Umweltschutz als eine Art Schuldmanagement: vermeiden, sparen, verzichten, reduzieren. Die Nachhaltigkeit, die daraus folgt, ist technologiefeindlich und macht den Kunden zum Feind. Bei Cradle to Cradle geht es nicht um Moral, sondern um Innovation und Qualität: Alles ist nützlich statt weniger schädlich. Je mehr du kaufst desto besser.“
Vielen mag solches Fehlen von konsumkritischen „Nachdruck“ als Schwäche erscheinen, mir persönlich erscheint er als Stärke. Vermutlich weil ich an der Kraft des moralischen Zeigefingers zweifle und eher auf die Kraft rationaler und vernünftiger Informationen setze. Und auf die Fähigkeit der meisten Konsumenten vertraue, diese sinnvoll zu verarbeiten und mit ihrem Gewissen zu vereinen. Cradle to Cradle bietet jedenfalls einige vernünftige Argumente, das gute Gewissen ist am Ende „nur“ ein Nebenprodukt.
Abgrenzung von Recycling
Verpackungsrecycling ist laut Braungart „Downcycling und somit minderwertig“. Braungart hält jedes Produkt, das zu Abfall wird, für ein Produkt von schlechter Qualität. Außerdem sei Recycling innovationsfeindlich: „Die neuen Dinge kommen nicht auf den Markt, weil die alten optimiert werden. Das Falsche wird perfekt – und dadurch perfekt falsch. Wir haben die Abfallwirtschaft perfektioniert statt bessere Produkte zu entwickeln.“
Im Unterschied zu Recycling sollen sämtliche im Kreislauf befindliche Materialien bei Cradle to Cradle entweder in der Biosphäre oder in der Technosphäre verlustfrei „dauerverwertet“ werden. Unter die Biosphäre fällt dabei alles, was als biologischer Nährstoff und Verbrauchsgut dienen kann (wie z.B. Reinigungsmittel und Shampoos), unter die Technosphäre alles, was als technischer „Nährstoff“ und Gebrauchsgut (z.B. Autos und Waschmaschinen) dienen kann. Eine grafische Darstellung dazu findet sich auf Braungarts Hompage an der Environmental Protection Encouragement Agency in Hamburg.
Als Beispiel nennt Braungart von ihm entwickelte, kompostierbare Stoffe für Sitze in Zügen, die als Torfersatz in Gärtnereien statt auf dem Sondermüll landen.
Gedankliche Umstellung: Nutzung statt Besitz
Wir besitzen zwar unsere gekauften Güter, doch eigentlich ist es die Nutzung, die wir wirklich wollen. Oder nicht? Möchtest du an deinem Ultra-HD-Fernseher wirklich die Bauteile oder ist es nicht viel eher die entspannte Zeit mit der bunten Bildberieselung? Auch bei der Waschmaschine stellt sich die Frage: geht es um die Trommel und die Steuerungsplatine, oder sind wir nicht viel eher nur an der sauberen Wäsche interessiert? Beim Kauf eines Paares Steigeisen ist es ähnlich: mich interessieren die Riemen, Bügel und die Metallmischung dabei eher am Rande. Was ich wirklich kaufen will, ist die Erfahrung, ein ansonsten unzugängliches Gelände zu begehen.
Der Wunsch nach ungeteiltem Besitz kann aber auch daraus resultieren, dass man im eigenen Auto und der eigenen Jacke nicht die körperlichen Ausdünstungen anderer Nutzer haben möchte. Doch selbst das ist letztlich eher ein Wunsch nach uneingeschränkter Nutzung als nach Besitz an sich.
C2C-Erfinder Braungart macht dieses Nutzungsprinzip am Beispiel der Waschmaschine deutlich. Die ist, wenn sie 50 Jahre hält, „die größte Pest, weil ich die Materialien nicht wieder zurückbekomme und weil dann keine neue wassersparende Technik auf den Markt kommt. Wenn ich aber nur die Nutzung verkaufe, kann sich Innovation verbreiten. Wir haben eine Waschmaschine entwickelt, bei der man den Kunden nur 3.000 Mal Waschen verkauft. In der Produktion komme ich dann mit nur fünf bis acht hochwertigen Komponenten aus, statt 150 billige Kunststoffe zu verwenden.“
Nach den 3.000 Waschgängen sollen dann die veralteten 20 Prozent der Komponenten ausgetauscht werden, während die anderen 80 Prozent bleiben. Bei C2C kommt es demnach auf die Langlebigkeit der Komponenten statt auf die Langlebigkeit des Endprodukts an.
Die Cradle to Cradle-Zertifizierung
Da es für Laien kaum erkennbar ist, ob ein Produkt „Cradle to Cradle ist“, braucht es eine zuverlässige Zertifizierung. Die Cradle to Cradle-Zertifizierung ist weithin als zuverlässig und nachvollziehbar anerkannt. Sie „beurkundet die Verwendung von umweltsicheren, gesunden und wiederverwertbaren Materialien (technische Wiederverwertung oder Kompostierung), den Einsatz von Sonnenenergie bzw. anderen regenerativen Energieformen, den verantwortungsvollen Umgang mit Wasser sowie die Strategien zu sozialen Verpflichtungen des Unternehmens.“
Die Zertifikate werden je nach Menge und Qualität der erreichten Produktkriterien in den Kategorien „Basis“, „Silber“, „Gold“ oder „Platin“ für ein Jahr ausgehändigt. Unternehmen haben die Möglichkeit, durch Fortschritte höhere Kategorien zu erreichen.
C2C in der Outdoorbranche
In der Outdoorbranche gibt es bislang nur vereinzelte Beispiele für Cradle-to-Cradle-Produkte. Und nicht alle sind nach dem Originalkonzept umgesetzt bzw. zertifiziert. So hat beispielsweise Adidas ein eigenes Konzept erarbeitet und es als „Cradle-To-Grave“ bezeichnet. Angewendet wird es in einem Schuhmodell namens Futurecraft Loop, welches wir hier im Adidas-Nachhaltigkeitsportrait schon vorgestellt haben. Es soll komplett recyclingfähig sein und bis zu den Schnürsenkeln aus nur einem TPU-Material bestehen. Der „Loop“ ist hier das Rücknahmesystem, in dem nach Reinigung, Häckselung und Beimischung weiteren TPUs der Nachfolgeschuh entsteht.
Auch das norwegische Traditionslabel Bergans ist dabei, ein C2C-Konzept zu installieren. In seiner „Kollektion von morgen“ stellt das Unternehmen eine mögliche Lösung vor, „wie die Kluft im Lebenszyklus eines Produkts – zwischen Recycling und neuen Rohstoffen – geschlossen werden kann, indem sie auf komplette Kreislaufwirtschaft setzt“.
Wichtigster Baustein dieses Projekts ist die Zusammenarbeit mit dem Faserproduzenten Spinnova. Spinnova hat das von den „Regeneratfasern“ bekannte Verfahren der Celluloseverarbeitung so weiterentwickelt, dass die bislang unvermeidliche Beimischung von Chemikalien wegfällt. Nach Einschätzung von Bergans „entwickelt Spinnova die nachhaltigsten Fasern der Welt“.
Wenn dieser Ansatz so vielversprechend ist wie er klingt, könnte er ein Kandidat für die bislang noch nicht vergebene C2C-Platin-Zertifizierung sein …
C2C bei den Bergfreunden
Da man natürlich auch die Bergfreunde zur Outdoorbranche zählen darf, sei an dieser Stelle nochmal erwähnt, dass immer mehr Kollegen aus einer C2C-zertifizierten Flasche trinken. Nein, nicht alle aus der gleichen, keine Sorge. Viele Bergfreunde nutzen inzwischen Dopper-Flaschen. Was an der so besonders ist, hat Bergfreund Jörn uns hier vor ein paar Monaten erklärt.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass C2C ein vielversprechendes und groß gedachtes Konzept ist, dass sich nicht von heute auf morgen flächendeckend einführen lässt. Es köchelt bereits seit 20 Jahren auf kleiner Flamme in der Design- und Industriewelt vor sich hin. Bislang ist es nicht in den Blick der breiten Öffentlichkeit geraten. Das dürfte sich mit dem steigenden und dringlicher werdenden Bedarf nach solchen Konzepten aber recht bald ändern.