Am 28. und 29. Mai waren Fritz Miller und Lukas Binder zusammen mit dem Allgäuer Flo Jehle (23, Mitglied im DAV Expeditionskader) am Monte Qualido hoch über dem norditalienischen Val di Mello zugange. Ihr Ziel war eine Wiederholung der Bigwall-Route „Vertical Holidays“. Fritz berichtet über einen „Urlaub“ der härteren Sorte:
„Knacks“, der Haken hält meinem Körpergewicht nicht stand. Ich stürze die stumpfe Verschneidung hinunter. Flo und Lukas ducken sich zur Seite, als ich den Stand passiere. Kurz darauf endet mein Flug mit der schmerzhaften Bekanntschaft mit einer Dachkante, die wir soeben überklettertet hatten. Zuvor, in der zweiten Länge, bin ich schon mit einem ausbrechenden Cam aus einem Überhang geflogen und in der darunter liegenden Platte fast auf Lukas gestürzt. Ein kleiner Keil hat aber gehalten. Jetzt das. Der Knöchel schmerzt, das ganze Schienbein und das Knie auch. Kein guter Start. Vor uns liegen noch 19 Seillängen.
Nach einer kurzen Pause starte ich erneut in die Dritte Länge. Diesmal langsamer und vorsichtiger – anders scheint es nicht zu funktionieren. Am Stand angekommen liegen 40 heftige Klettermeter hinter mir. Kompakter Granit, der sich gegen jede Form von Fixpunkten sträubt, Risse, die mit Erde und Gras aufgefüllt sind und 2 Bohrhaken, die aus einer verrosteten 8-mm-Schraube und einer Alu-Lasche bestehen. A3-Gelände, würde ich sagen. Der Kletterführer weiß es besser: 6b+ und A2. Wir sind gewarnt.
Materialschlacht in der Vertikalen
Unser Ablauf sieht wie folgt aus: Ich steige eine Länge vor – teils in freier und teils in technischer Kletterei, meist in einer Mischung. Dafür brauche ich jede Menge Material: viele Karabiner und Exen, Schlingen, Hammer und Haken, Friends und Keile, Trittleitern und Cliffhänger. So behangen bin ich zehn Kilo schwerer und sehe aus wie ein Weihnachtsbaum. Flo sichert mich mit einem gewöhnlichen Einfachseil. An meinem Gurt hängt noch ein zweites Seil – unser Haulseil. Das 9-mm-Statikseil dient uns aber nicht nur zum Nachziehen des Gepäcks: Sobald ich das Seil am Stand fixiert habe, steigt Lukas so schnell er kann mit den Steigklemmen daran auf. Danach ziehen wir gemeinsam unser Gepäck zum Stand hoch. Unser Gepäck besteht aus einem 70-Liter-Haulbag mit Biwakmaterial, Wasser, Proviant und Schuhen und einem separat verpackten 2-Mann-Portaledge (ein Portaledge ist sozusagen ein Bett für die Wand). Flo steigt (ebenfalls mit Steigklemmen) am Kletterseil auf und entfernt die von mir angebrachten Sicherungen. Abgesehen von Quergangspassagen funktioniert das System erstaunlich gut. So bringen wir Länge für Länge hinter uns.
Kreatives Klettern
Was macht man, wenn eine Griffschuppe oder ein Riss mit dicken Graspolstern zugewachsen ist? Wir nehmen die Grasbüschel als Griffe und klettern ins Ungewisse. So lustig das auch klingen mag: In unserem Fall, also in einer steilen ausgesetzten Wand, hätte man lieber Griffe, die nicht unter Belastung nachgeben. Anderer Fall: Eine glatte, strukturlose Felsplatte versperrt den Weiterweg. Dann ist Pendeln angesagt, um wieder kletterbare Strukturen zu erreichen. Auch beim Sichern dürfen wir nicht zimperlich sein: Wenn ein Keil nicht so richtig passen will, wird er wie ein „Copperhead“ eingeschlagen. Das Material leidet dabei zwar, Sicherheit geht aber vor.
Wind und Wetter
Wir sind in einer Ostwand unterwegs. Bis zum frühen Nachmittag hatten wir noch Sonne. Jetzt ist es schattig und kalt. Unsere Kleidung wäre für die Temperaturen gut ausreichend, würde nicht die ganze Zeit dieser Wind wehen. Flo hat mittlerweile die Führung übernommen (nachdem ich als Vorsteiger verschlissen war) und kämpft tapfer mit einer Dachquerung. Ich will gar nicht hinsehen und hoffe nur, dass alles hält. Vergeblich: auch Flo schießt mit einem ausbrechenden Placement aus der Wand. Bei so viel Einsatz bleibt ihm wenigstens warm, während Lukas und ich uns zitternd in unsere Schlafsäcke wünschen…
Zu dritt im Ledge
Im letzten Licht erreichen wir einen Standplatz, der etwas geschützt in einer stumpfen Verschneidung und unter einem Überhang liegt. Gut die Hälfte der Wand ist geschafft – genug für heute. Wir sind hungrig und müde. Erstmal geht die Arbeit aber weiter. Das Einrichten unseres Biwaks verlangt volle Konzentration, damit nichts verloren geht. Als das Portaledge endlich hängt, versuchen wir drei uns darauf zu verteilen. Plötzlich verwindet sich das Ledge – es hängt nicht optimal – und Flo fällt fast heraus. Zwar sind wir gesichert, der Gedanke an eine Wiederholung des Vorfalls wird unseren Schlaf aber nicht gerade verbessern…
Nach einer kurzen Nacht warten wir am nächsten Morgen vergeblich auf die wärmende Sonne. Stattdessen ist es trüb und windig, als wir unser Lager abbrechen. Flo erbarmt sich und übernimmt zunächst die Führung – ein mieser Job, wenn man kalt und steif ist.
Sturm
Trotz allem kommen wir gut vorwärts. Die Kletterei ist etwas einfacher geworden, das Wetter wieder besser. Nur der Wind lässt nicht nach. Lukas steigt mittlerweile vor. Bald erreichen wir eine breite Gratstufe, von der es noch 3 Längen bis zum Gipfelgrat sind. Das Gelände sieht noch einmal heftig aus: ein 50 m langer, stark überhängeder Riss, danach eine 30 m lange geneigte Platte. Ich darf wieder ran. Der Wind peitscht über den Gipfelgrat und erzeugt unheimliche Geräusche bis hin zu einem lauten Knallen, das mich fast aus der Wand wirft. Unser Haulbag hängt frei und wird von den Böen bisweilen waagerecht in die Luft geschleudert. Die letzte Seillänge verlangt mir noch einmal alles ab: Cliffhangerzüge, viel zu weite Runouts, Flechten auf Reibungstritten. Dann ist es geschafft. Wir stehen oben. Die Freude und die unbeschreibliche Aussicht auf die steilen Granitberge des Bergells und das traumhafte Val di Mello werden nur vom eisigen Wind getrübt. Schnell weg hier. Unter uns liegt eine 700 m hohe, fast senkrechte Wand. Über die Route abzuseilen wird kaum möglich sein. Am Gipfelgrat finden wir aber einen anderen Standplatz, der zum Abseilen eingerichtet ist. Wir probieren es – es klappt. Immer wieder finden wir Stände, ein paar richten wir selber ein. Ungefähr um 8 Uhr abends haben wir wieder festen Boden unter den Füßen. Bis zu unserem Biwakplatz, „Hotel Qualido“ genannt, sind es nur wenige Minuten. Den langen Abstieg ins Tal, die Querung des wilden Schmelzwasserbachs, das alles ist jetzt weit weg. Wir denken nur bis zu unseren Schlafsäcken und einer warmen Suppe.