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Anni auf dem Nordkalottleden – 400 km alleine durch Nordskandinavien

Inhaltsverzeichnis

Nordkalottleden – was, wo, warum?

Jeder, der sich schon mit dem Wandern in Skandinavien abseits des Kungsleden beschäftigt hat, ist sicher mindestens einmal auf ihn gestoßen – den Nordkalottleden. Die Nordkalotte, das ist die Bezeichnung für den Teil Skandinaviens, der sich geographisch nördlich des Polarkreises befindet. 1993 wurde dieser Fernwanderweg eingeweiht, um eine Verbindung von bereits etablierten Wanderwegen wie Padjelantaleden oder Kungsleden zu schaffen. Zudem wollte man einen Wanderweg schaffen, bei dem man Teile aller drei Länder – Norwegen, Finnland und Schweden – auf einem oder mehreren Abschnitten des Weges durchwandert, nicht zuletzt auch, um die Verbindung der drei Länder untereinander zu stärken. Der Nordkalottleden verläuft von Kautokeino im Norden Norwegens über 800 Kilometer nach Kvikkjokk in Schweden oder wahlweise nach Sulitjelma in Norwegen. Immer wieder übertritt man dabei die Landesgrenzen. Es gibt einige Varianten des Weges und so ist es einfach, nicht einer starren Route zu folgen.

Grenzgänger… Foto: Anna-Maria Wilhelm

Ich selber habe letztes Jahr erstmals vom Nordkalottleden gehört und war sofort interessiert. Noch nie war ich oberhalb des Polarkreises, und selbst der südliche Terminus Kvikkjokk bzw. Sulitjelma befindet sich noch weit oberhalb 66° Nord – faszinierend. Ganz viel Inspiration bekam ich von meinem Freund Simon, der vor drei Jahren einmal der Länge nach durch Norwegen gewandert ist. Was für eine unglaubliche Leistung! Wie muss es sich wohl anfühlen, so lange unterwegs zu sein? Was passiert mit einem? Doch die 3000 Kilometer hebe ich mir dann vielleicht doch für später auf. Der Nordkalottleden reizte mich erst einmal als eine Art „Langtur light“. Man läuft weit und lange, aber nicht erschreckend weit und lange. Er ist auch für jemanden machbar, der nicht gleich seinen Job kündigen möchte. Er ist so viel Abenteuer, wie man für einen „normal“ arbeitenden Menschen voll auskosten kann, ohne ein halbes Vermögen zu investieren. Es gibt mit Peter Bickels und Michael Hennemanns Führern sogar zwei deutschsprachige Bücher darüber. Und nicht zuletzt ist mir meine erste Solotour letztes Jahr im Rondane Nationalpark noch in wunderbarer Erinnerung. Dort leckte ich richtig Blut und träumte seither davon, wie es wohl wäre, einfach einmal länger als 10 Tage allein im Fjell zu wandern. So weit so gut, ich bekam das OK von den Bergfreunden (großes Dankeschön an dieser Stelle!), reichte jeden Urlaub ein, den ich zusammenkratzen konnte, und los ging es mit der Planung.

Dieser Reisebericht soll nicht jede Einzelheit des Nordkalottleden beschreiben, er soll auch nicht nüchtern in Fakten wiedergeben, wie der Weg beschaffen ist, wie sich die Landschaft gestaltet oder wie lang genau die Etappen sind. Er soll wiedergeben, wie es sich anfühlt, als Frau einfach allein loszuwandern und mehrere Wochen auf sich gestellt zu sein – und sich gleichzeitig den Traum zu erfüllen, eine lange Tour zu planen und zu wandern. Und er erzählt auch vom Scheitern und wieso es eigentlich gar nicht Scheitern sein muss. Wer allzu viel Emotion nicht verträgt, sollte hier besser aufhören zu lesen 😉

Kautokeino – Kilpisjärvi: Aller Anfang ist schwer

Nach einem traurigen Abschied ließ ich Simon am Bahnhof in Horb am Neckar zurück und stieg in den Zug Richtung Zürich, wo mein Flieger nach Alta mit Zwischenstopps in Oslo und Tromsø gehen sollte. Am Flughafen Alta angekommen, verspürte ich erstmal den Drang mich kneifen zu müssen. War ich wirklich keine 250 Kilometer vom Nordkap entfernt? Wahnsinn, im ganz hohen Norden. Das Hochgefühl verflog jedoch sofort beim Blick auf den Busfahrplan – in der Spalte für Samstag herrschte gähnende Leere. Dabei hatte ich mir zu Hause alles schön zurecht organisiert und mich schon gewundert, dass meine Anschlüsse so gut passten. Aber was zu Hause am Rechner funktioniert, muss vor Ort nicht immer so perfekt sein. Also machte ich mich, nach einem Stopp im Supermarkt, auf den Weg zum Campingplatz, der etwas außerhalb der Stadt liegt. Meine Versuche zu trampen waren vergeblich und so fand ich bei 4 km nicht gerade ungefährlicher Landstraße eine hervorragende Einstimmung auf meine Wanderung. Nachdem ich mein Zelt am Campingplatz aufgeschlagen hatte, traf ich Carsten aus Kiel, der zufällig schon auf einem von Simons Vorträgen war – die Welt ist so klein! Und es tat gut, das gerade so weit weg von zu Hause zu spüren, war mir doch etwas bang zu Mute, endlich auf Wanderschaft zu gehen.

Bergfreundin Anni wandert den Nordkalottleden
Schwere Schritte im Matsch – Foto: Anna-Maria Wilhelm

Am nächsten Tag nahm ich den Bus nach Kautokeino, wo ich mich gleich in einem kleinen Hüttchen auf einem der Campingplätze einmietete. Noch ein letztes Mal Zivilisation für eine längere Zeit, und schon jetzt brach es mir vor Heimweh fast das Herz. Wie würde es wohl werden? Schaffe ich das alles? Als der große Tag am 15.8. endlich da war, bekam ich mein Frühstück kaum herunter. Ich schulterte meinen 25 kg schweren Rucksack, in dem ich Essen für zwei Wochen verstaut hatte, und los ging es. „It should be a bit swampy, but you should get there dry“, sagte man mir in der Touristeninformation auf meine Frage nach der Wegbeschaffenheit, denn dieser Teil des Nordkalottledens steht in Verruf, recht sumpfig zu sein, vor allem bei einem feuchten Sommer, wie er in diesem Jahr in Nordskandinavien vorherrschte. Was „a bit swampy“ genau heißt, durfte ich dann gleich am eigenen Leib erfahren. Der Einstieg erwies sich als unauffindbar, denn, wie mir ein freundlicher Sami wenig später erklärte, hatte man den Verlauf des Wanderwegs in diesem Teil geändert und alle Karten waren veraltet – hervorragend. Bereits wenige Minuten später verwandelte sich der Wanderweg das erste Mal in einen kleinen See. Wo Weg sein sollte, war nur Wasser, an dessen Ende mit etwas Glück eine verblichene Markierung. Na gut, dachte ich mir, von Grasbüschel zu Grasbüschel hüpfend, das kriegst du hin. Der erste Heulanfall ließ nicht lang auf sich warten, während ich mich durch die moorigen Senken kämpfte, teilweise mehrere Kilometer lang. Wasser und Schlamm liefen mir in meine Wanderstiefel, an Gamaschen hatte ich natürlich nicht gedacht. Es kostet unheimlich Kraft, die Füße wieder aus dem Sumpf zu ziehen, wenn man einmal tief eingesunken ist, sodass mein Puls bald in astronomische Höhen schnellte. Doch als Mittagessen für die Mücken wollte ich nicht enden, und so musste ich in Bewegung bleiben. Was für eine Sch****. Wie zum Hohn strahlte die Sonne auf mich herab, schönstes Wanderwetter eigentlich. Nach gut zwei Dritteln der 20 Kilometer langen Etappe erklomm ich am Ende meiner Kräfte den Hügel Goaskinvarri auf gut 500 m, von wo ich eine wunderbare Aussicht auf diese Hölle von Sumpf genoss – denn so weit nördlich ist man hier bereits über der Baumgrenze. Nun hatte ich das Schlimmste geschafft und musste nur noch einer Quadspur der Sami folgen, um mein Ziel Madam Bongos Fjellstue zu erreichen. Der Ausblick auf die endlosen Birkenwälder war schön, doch in diesem Moment kam er mir fast feindselig vor. Nie wieder! Es stand jetzt schon fest, dass ich am nächsten Tag die Straße in Richtung Reisavannhytta nehmen würde. Die Teerstraße erreichte ich schon wenig später – geschafft! Ha, nimm das, Sumpf!

Bei Madam Bongos Fjellstue findet man ein recht usseliges Grundstück eines alten Sami vor, der ein paar Übernachtungsmöglichkeiten in kleinen Hüttchen anbietet. Ob er wohl jemals mal mit dem Mopp durchgegangen ist oder die Bettwäsche öfter als im einmal im Monat wechselt, nachdem ein Nordkalott-Wanderer hier geschlafen hat – ich weiß es nicht und es war mir auch egal, denn ich war völlig am Ende, sowohl körperlich als auch psychisch. Was für ein besch**** Anfang! Aber ich wollte ja Abenteuer und habe es bekommen. Viele Wanderer starten den Nordkalottleden im Süden, jetzt wusste ich auch warum. Ein tröstendes Telefonat nach Hause brachte mich wieder etwas auf Kurs, und der Sami munterte mich mit den Worten „Du har klart testen“ (Du hast den Test bestanden) auf. Tatsächlich gilt dieser Abschnitt des Nordkalottleden als der beschwerlichste Teil der ganzen Tour. Ein reingezwungenes Real Turmat und eine Trinkschokolade später schlief ich völlig fertig zu beruhigenden Klängen der Kreissäge des alten Sami ein, der das lange Tageslicht im August nochmal so richtig ausnutzte, um seine Hüttchen winterfest zu machen.

Der nächste Tag hielt fast nur Straßenkilometer für mich bereit, und nichts Schöneres hätte ich mir für meinen zweiten Tag vorstellen können – keine Ironie! Die Straße gab mir Sicherheit, die Sonne strahlte und ich konnte mich bei dem vorzüglichen Hörbuch „Abgehauen“ von Manfred Krug fast schon entspannen. Manfreds beruhigende Stimme klang in meinem Ohr, während die Kilometer nur so dahin flogen. Ab und an fuhren einige Sami mit riesigen Anhängern, bestückt mit bulligen Quads, an mir vorüber. Doch mit jedem Kilometer schmerzten die Füße mehr, ich musste immer öfter pausieren. Wenn meine Füße reden könnten, ich hätte sie schreien hören „Spinnst du jetzt total? Was zur Hölle machst du da eigentlich?“. Nach guten 30 km verließ ich die Straße, durchquerte ein Rentiergehege und suchte mir schon bald einen schönen Zeltplatz, denn es zur Reisavannhytta zu schaffen, war einfach nicht mehr drin. Auf einer Anhöhe errichtete ich mein Lager und genoss die Abendstimmung. Die Dämmerung in diesen Tagen war so lang wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. In Zeitlupe verschwand die Sonne hinter den Bergen, um nur wenige Stunden später wieder aufzugehen.

Am dritten Tag traf ich den ersten Wanderer – Peter aus Schweden, unterwegs von Abisko nach Kautokeino. Ich hatte bereits beim Blick auf die Karte erahnen können, dass auch dieser Tag wieder eine Menge von meinem heißgeliebten Sumpf bereithalten würde. Als Peter sagte, dass es „pretty terrible“ sei, man aber durch die von Sami gelegten Plastikmatten für die Quads nicht soo tief einsinken würde, schaltete ich auf Kriegsmodus und zog durch. Und ja, es war pretty terrible. Zwei recht breite Flüsse sollten durchwatet werden, was angesichts meines ersten Tages wie Kindergarten anmutete. Ich durchschritt das Gatter eines Rentierzaunes und war nun auf einer Weide. Die Weiden der Rentiere sind jedoch so groß, dass man mehrere Tage braucht, um eine zu durchwandern. Meine Freude war riesig, als schon bald die ersten Exemplare vor mir über den Weg tippelten – wie ich sie mag! Sie bewegen sich elegant, mit Leichtigkeit und doch sind sie äußerst possierlich und, je nach Größe des Geweihs, auch ziemlich majestätisch. Wenn man durch Nordskandinavien wandert, begleiten sie einen wie Schutzengel. Nachdem meine Füße wieder unglaublich schmerzten und sich jetzt auch taube Stellen bildeten, schlug ich mein Zelt an einem Hügel auf halbem Weg zum Reisadalen auf, von dem sich eine herrliche Sicht auf die weichen Hügel der Finnmark bot. Schon kurze Zeit später umstreiften Rentiere mein Zelt, nachdem sie mich für ungefährlich befunden hatten. Ganze Familien mit Kälbern, deren Glöckchen sanft bimmelten, als sie keine 50 Meter von meinem Zelt friedlich ästen – was für ein Glücksmoment! Eine tolle Belohnung für diese schweren ersten Tage.

Von Canyons, Frauen im Fjell und Finnland

Am nächsten Tag sollte es endlich ins Reisadalen gehen, ein gewaltiger Canyon mit steil aufragenden Felswänden und dem malerischen Reisaelva, der vor allem am Wochenende ein beliebtes Ziel für Angler und Ausflügler ist, die sich in Langbooten durch den Fluss chauffieren lassen. Es war schon fast Wochenende, und als ich die Nedrefosshytta erreichte, hörte man bereits die ersten Außenbordmotoren knattern. Nach wieder einmal über 20 km in den Knochen, schloss ich mit meinem DNT-Schlüssel (der Generalschlüssel für alle Hütten des Norske Turistforening, dem Norwegischen Wanderverein) die urgemütliche Hütte auf und machte mich gleich zum Fluss auf, um mich nach 3 verschwitzten Tagen endlich zu waschen. Herrlich erfrischend, denn unten im Reisadalen war es noch wärmer als bisher – über 20 Grad! Die Mücken stürzten sich auf mich und schnell war das Vergnügen zu Ende. Meine lädierten Füße verlangten eine Pause und so beschloss ich, dass hier der richtige Ort war, um einen Ruhetag einzulegen. Ich las, kochte, wusch etwas Wäsche und fand im Hüttenbuch Simons Eintrag von seiner Norge på Langs Wanderung, die ihn vor drei Jahren auch hier im Reisadalen vorbeiführte. Gleich kamen mir die Tränen vor Heimweh, und am liebsten hätte ich in eines der Fischerboote gekapert und wäre zur nächsten Bushaltestelle gerudert. Die ersten Tage waren schwer und ließen mich absolut nicht die Freude verspüren, die ich sonst unterwegs hatte. Was war nur los? Die Schmerzen, die Einsamkeit, das Heimweh, die Übelkeit schon beim Gedanken an Essen und die beschwerlichen Bedingungen auf dem Weg zehrten und nahmen mir den Genuss an Norwegen. Die wenigen schönen Momente konnten das nicht aufwiegen. Ein richtig schlechtes Gewissen machte sich breit. Nicht wenige beneideten mich darum, dass ich diese Tour machen konnte und wären gern an meiner Stelle gewesen. Ich hatte 8 Monate ohne Urlaub durchgearbeitet, viel von meiner Freizeit und Geld in Training und Planung investiert, und auch auf Arbeit war man mir zu meinem großen Glück wohlgesonnen und erlaubte mir, sieben Wochen abwesend zu sein – die Erwartungen waren hoch im Vorfeld. Ich hatte diese Tour jetzt gefälligst zu genießen und Spaß zu haben. Doch andererseits lag noch nicht einmal eine Woche hinter mir, die Hoffnung war da, dass sich meine Stimmung noch zum Guten wendet. Dass sich der Körper an die Belastung gewöhnt und man einfach mit großer „Turglede“ in dieser wunderbaren Landschaft unterwegs sein kann…

Das Reisadalen hielt noch einmal ganz andere Herausforderungen bereit. Der übliche Sumpf wurde jetzt ergänzt durch mannshohen Farn, bei dem ich mich wie Bear Grylls im Dschungel fühlte. Und überall: Mücken. Ich wollte nur noch raus aus dieser Hölle und wanderte die 29 km lange Strecke von der Nedrefosshytta bis nach Saraelv an einem Tag. Puh. Immerhin hatte ich dort zu meiner großen Freude Handyempfang und die Aussicht, am nächsten Tag wieder ins Fjell zu dürfen – in die Weite, die ich so liebe. Endgültig zerstochen überwand ich die 700 Höhenmeter aus dem beengenden Canyon ohne Probleme und wurde sofort mit Stille, einem angenehmen Lüftchen und Mückenfreiheit belohnt. So mag ich das! Der herrlichste Zeltplatz der ganzen Tour wartete auf mich. An einem See baute ich mein Zelt auf, holte Wasser und kochte mein Bla Band Tütengericht. Spätestens am nächsten Tag würde ich Bloggerin Anastassija treffen, die schon vor Wochen von Kvikkjokk, dem anderen Ende des Nordkalottleden, aufgebrochen war und mir nun laut Berechnungen entgegenkommen müsste. Und tatsächlich – am nächsten Morgen stand da noch ein Zelt. Die Freude war von beiden Seiten groß, sich über den Weg auszutauschen, und bis in den Nachmittag hinein plauderten wird über Gott und die Welt, kochten und genossen die Sonne. Erst um halb fünf brachen wir unser kleines 2-Frau-Pfadfindercamp ab, schließlich musste Anastassija noch den ganzen Weg nach Saraelv absteigen, und auch ich hatte noch 15 km bis zur Somashytta vor mir. Die schöne Begegnung verlieh mir Flügel, sodass ich schon nach zweieinhalb Stunden an der offenen Hütte ankam. Ich ließ mich auf dem weichen Rentierfell nieder und lies den Abend beim Hüttenbuchlesen ausklingen.

Stein auf Stein auf Stein auf Stein Foto: Anna-Maria Wilhelm

Finnland begrüßte mich am 22.8. mit Nebel und Nieselregen – doch nachdem ich bisher ausschließlich strahlenden Sonnenschein genießen hatte können, war das durchaus zu verschmerzen. Mit Finnland kamen auch die Geröllfelder – große Steine, kleine Steine, feste und lockere Steine, spitze und runde Steine, die Vielfalt kannte einfach keine Grenzen. Der nur 12 km lange Marsch zur Pitsusjärvi-Hütte entpuppte sich als sechsstündiger Höllenritt für meine Füße. Der Wind frischte auf, Schaumkronen bildeten sich auf dem Pitsusjärvi-See, an dem die Hütte malerisch gelegen ist. Die beiden finnischen Frauen, die ich in der Hütte traf, waren wie so viele Finnen die teilweise durch das ganze Land hier her pilgern, hergekommen um auf den Halti zu steigen, Finnlands höchsten Berg. Doch ich hatte keine Ambitionen, ihn zu erkraxeln, sondern freute mich, dass ich schon in 3 Tagen Kilpisjärvi erreichen würde. Und besonders schön war es hier auch nicht – wie eine karge, steinige Mondlandschaft, die für mich wenig Reiz hatte. Über leicht hügeliges Fjell zur Kuonjarjoki-Hütte, in der ich dank zwei sägend schnarchenden Finnen kaum ein Auge zu tat, ging es schließlich nach Kilpisjärvi – dem Ende der ersten Etappe des Nordkalottleden. In den letzten zwei Tagen hatte ich im Zeitraum weniger Stunden mehr Menschen getroffen als in meiner ganzen ersten Woche. Und auch auf dem Abschnitt Kilpisjärvi-Abisko sollte es geschäftig zugehen. Doch erst einmal gönnte ich mir zwei Tage in der Herberge Retkeilykeskus, wo ich mir ein Zimmer nahm, und tat mich an den reichhaltigen Buffets morgens und abends gütlich, erfreute mich daran, die Beine hochzulegen und telefonierte mit meinen Liebsten.

Kilpisjärvi – Innset: Qualität kommt von Qual

Der Weg ins Isdalen.

Leider zerschlug sich meine Hoffnung, dass meine Füße sich in dieser Zeit erholen würden und nicht mehr nach spätestens drei Stunden zu schmerzen beginnen, ziemlich schnell. So gestaltete sich jeder weitere Tag als Probe für meinen Willen, diese Tour zu gehen. Es tat weh, festzustellen, dass es nur mehr Wille war, der mich antrieb, und nicht die reine Freude am Unterwegssein und an der Natur. Ich wollte zunehmend nach Hause, in Sicherheit sein, nicht jeden Tag zur Zerreißprobe werden lassen. Das von nun an schlechte Wetter trug nicht gerade zur guten Laune bei. Einen Lichtblick verschafften mir die Begegnungen in der Zeit ab Kilpisjärvi.

Schon nach dem Passieren des Dreiländerecks Finnland-Schweden-Norwegen (Treriksröset genannt) traf ich die ersten Deutschen, eine Frau meines Alters mit ihrem Vater, mit denen ich gemütlich schnatternd den Abend auf der Gappohytta am Kamin verbrachte. Am nächsten Tag machte ich mich auf den anstrengenden, aber schönen Weg durch das beeindruckende Isdalen zur Rostahytta. Dort angekommen wurde ich gleich schon von Sarah aus Hamburg empfangen, die ich bereits auf dem Boot von Kilpisjärvi zum Treriksröset getroffen hatte. Auf die Frage, wie es lief, erzählte ich ihr von meinen schmerzenden und teilweise tauben Füßen, worauf sie entgegnete „Ich bin Physiotherapeutin, das schau ich mir heut noch an. Aber erstmal bekommst du Früchtetee mit viel Zucker“. Ihr Ernst? Ich war im Wandererhimmel – eine Physiotherapeutin auf der Hütte, die mir auch noch Tee kocht! Weniger erfreulich war dann Sarahs Diagnose, es gebe Probleme mit meiner Lendenwirbelsäule. Der Schmerz würde also mit der Zeit nicht besser werden, im Gegenteil. Ihre haarsträubende Schmerzpunkt-Behandlung ließ ich dann gern über mich ergehen. Die anderen Hüttenbewohner staunten nicht schlecht über die brüllende, heulende Anni, die da auf der Sitzbank gequält wurde. Danke Sarah!

Die anderen waren Jonas aus den Niederlanden, Dagmar aus Karlsruhe und Solveig aus der Nähe von Tromsø. Mit ihnen bildete sich ein kleines Grüppchen, das sich von nun an stets abends auf der Hütte traf – und obwohl ich kein geselliger Typ bin, war ich froh darüber, denn ich durfte hier unglaublich liebe, lustige Menschen kennenlernen. Tagsüber bestritt jeder den Wandertag für sich. Auch war ich froh, so viele Abende in den gemütlichen norwegischen DNT-Hütten verbringen zu dürfen, die wirklich jedes Mal und jede immer anders „Hytteglede“ (frei übersetzt: “Hüttenfeeling”) aufkommen lassen. Von der Rostahytta ging es zur Daertahytta über eine steinerne Geröllwüste und den bisher höchsten Punkt der Wanderung auf 1300 m.

Ausblick auf das Anjavassdalen in Nordnorwegen.

Der Weg von der Daertahytta zur Dividalshytta war mit seinen 24 km in anspruchsvollem Gelände wieder einmal eine große Herausforderung. Beim Wandern durch eine Senke mit zwei Seen kam das altbekannte Kautokeino-Feeling auf, als ich bis zur Wade im Sumpf einsank, dass es nur so schmatzte. Dieses Mal hatte ich jedoch meine schöne Bergans Regenhose mit integrierten Gamaschen an – praktisch! Auch der eigentlich kurze Weg von der Dividalshytta zur Vuomahytta zeigte sich dem Nordkalottleden angemessen mit endlosem Moor im Birkenwald, vielen Höhenmetern, fehlenden Markierungen und mit dem Divielva, der herausforderndsten Flussüberquerung bisher. Eins ist sicher: Wenn auf dem Nordkalottleden eine Tagesetappe nur 12 Kilometer hat, dann ist da irgendwo ein Haken.

Innset – Mein neues Ziel

In dieser Zeit reifte in mir der Entschluss, die Tour abzubrechen. Die Traurigkeit, keinen Spaß zu verspüren, hatte sich in pure Unlust gewandelt, und schon der bloße Gedanke daran, den weiten Weg, den ich mir noch vorgenommen hatte, unter diesen Schmerzen zu gehen, löste in mir Widerwillen aus. Nicht einmal die fünf Tage bis Abisko wollte ich noch wandern. Einfach raus – schnellstmöglich. Mit der Entscheidung, auf der Huskyfarm in Innset abzubrechen, breitete sich auch eine Erleichterung in mir aus. Ich wusste und weiß, es war richtig so. Trotzdem hatte ich ständig das Gefühl, meine Entscheidung vor mir selbst rechtfertigen zu müssen, gemischt mit einer großen Enttäuschung darüber, dass einfach alles nicht so geklappt hat, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es hätte doch so schön sein können.

Hytteglede in der Daertahytta.

Zwei Tage waren es noch bis zur Huskyfarm des Deutschen Björn Klauer in Innset, wo ich mir selbst in der Vorbereitung der Tour ein Versorgungspaket hingeschickt hatte, um auch auf der zweiten Hälfte des Nordkalottleden mit genug gefriergetrocknetem Essen, Tee, Schokolade, Karten und vielem Wichtigem mehr ausgestattet zu sein, denn die Nachschubmöglichkeiten auf dem Nordkalottleden sind spärlich gesät. Die Gaskashytta war die Endstation für unsere kleine Gruppe, denn auch Jonas war am Ende seiner Kräfte. Da sieht man, was der Nordkalottleden mit einem anstellt – selbst Wanderer, die schon seit 16 Jahren jedes Jahr lange, anspruchsvolle Touren gehen, zwingt er in die Knie.

Er hat uns alle geschafft, wir alle mussten kämpfen. Doch hatten wir das Glück, ein Stück unseres Weges zu teilen, uns gegenseitig Mut zu machen und so jeden Tag wieder gestärkt angehen zu können. In Innset angekommen, hatte ich kaum ein Auge für die dutzenden von Huskys und ihre Hüttchen oder den idyllischen See, an dem die Farm liegt. Ich war einfach viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Der erste Stress fiel ab und es heulte nur so aus mir heraus, ohne dass ich genau wusste, warum eigentlich. Der Kampf war zu Ende, mein großes Abenteuer auch. Jeden Tag aufs Neue an seine Grenzen zu gehen, Schmerz zu verdrängen und harten Willen hervorzubringen, geht auf Tour nur auf begrenzte Zeit – so lang, bis man sich an seinem persönlichen Ziel wähnt. Ist man da, merkt man erst einmal, welch mentale Leistung man da vollbracht hat. Es sammelt sich so viel an, wie in einer verstopften Regenrinne. Irgendwann löst sich der Pfropfen und alles überschwemmt einen; nicht nur psychisch, sondern auch physisch. Drei Tage nach meinem Abbruch wurde ich richtig krank. Mein Körper wollte mir wohl sagen: Frollein, das war ein bisschen zu viel. Eins steht fest: die nächste Tour wird entspannter und leichter – in jeglicher Hinsicht!

Das Fazit nach 400 Kilometer – ohne Schatten kein Licht

Fast 400 Kilometer legte ich in knappen drei Wochen zurück, und trotz dieser Leistung, die mir selbst auf die Fahnen schreiben darf, bleibt ein bitterer Beigeschmack, wenn ich heute an mein Abenteuer zurückdenke. Ich hatte Großes vor und viel dafür investiert, und doch kann man absolut nicht planen, wie der Weg für einen sein wird. Doch ich durfte wertvolle Erfahrungen sammeln: Ich weiß, wie eine Tour für mich nicht sein soll und was sie für mich zum Genuss macht. Ich weiß jetzt: Wenn es keinen Spaß mehr macht, hör auf damit (gilt für fast alles im Leben). Ich weiß, wie brachial ich kämpfen kann, dass ich einfach alles gegeben habe. Besser hätte ich es nicht machen können und das ist gut so. Ich weiß wie es ist, eine große Tour über ein halbes Jahr zu planen, drauf hinzuarbeiten und einfach allein loszugehen. Und ich weiß, dass für jede schlechte Tour auch wieder eine richtig gute kommt. All dies ist mir sehr viel wert, und auch wenn es mal nicht optimal läuft, kann ich nur jedem empfehlen, an einem großen Wunsch festzuhalten und es einfach zu versuchen. Wer gar nicht losgeht, kann auch nicht ankommen 🙂 In diesem Sinne: God tur!

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Bergfreundin Anni

8 Comments on the Article

  1. Dennis 18. Oktober 2016 16:54 Uhr

    Cool, bin auf den zweiten Teil gespannt! Vor allem würde mich Die Packliste interessieren! 25KG ist ja nicht ohne, hab ich vor paar Wochen beim Wandern in Schottland auch erleben dürfen. Zuviel Gepäck ist einfach zuviel :-)!

  2. sjoe 18. Oktober 2016 18:28 Uhr

    das ist echt ein spannender Bericht, vor allem gut geschrieben, man fiebert so richtig mit! ich bin schon sehr gespannt auf den nächsten Teil!

  3. nordicfamily 19. Oktober 2016 09:38 Uhr

    Hui wie inspirierend, wir sind auch auf den zweiten Teil des Berichtes gespannt, schließlich ist Nordskandinavien fast unsere zweite Heimat. Geertje von der nordicfamily

  4. Sarah 23. Oktober 2016 13:31 Uhr

    Hi meine liebste Anni! Ich musste jetzt oft schmunzeln und lachen, da ich den Bericht so unterschreiben kann. Du hast nur meine Freunde die bissigeb Fliegen nicht erwähnt. Gut, kann ja sein, dass ich ihnen einfach am besten geschmeckt habe und desshalb meine rechte Gesichtshälfte doppelt so dick war, nach den ersten 2 Tagen. Ich bin gespannt auf Teil zwei und unsere gemeinsamen "Abenteuer". Liebste Grüße

  5. Noana 13. Juni 2020 16:51 Uhr

    Hallo Anni, der Nordkalottenleden reizt mich schon seit einigen Jahren. Ich bin 2015 allein von Glasgow nach Cape Wrath gewandert, davor noch in den Sudeten. Insgesamt 800km. Es war für mich ein tolles und herausforderndes Erlebnis, zumal ich den kältesten und nassesten Sommer seit 40 Jahren in Schottland erlebte. Ich möchte gerne noch einmal so eine lange Wanderung machen. Und da ich schon in Pension bin, habe ich zeitlich keine Begrenzungen. Deine Beschreibung ist sehr interessant und vielleicht kann ich hilfreiche Tipps von dir bekommen. Herzliche Grüße Noana

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